Engel fliegt der Justiz davon

Einer der letzten NS-Kriegsverbrecher-Prozesse in Deutschland geht seinem Ende entgegen. Die Augenzeugen belasten den 93-jährigen „Schlächter von Genua“. Der beruft sich auf Führerbefehl

von Peter Müller und Andreas Speit

Der rüstige Rentner ist gelassen und selbstsicher. Friedrich Engel, der „Schlächter von Genua“, wird wegen seines hohen Alters von 93 Jahren wohl keine Haftstrafe mehr erleben müssen. Wie in den vergangenen Jahrzehnten, in denen er ein ruhiges Leben in seinem Haus in Lokstedt genießen konnte. Vor dem Hamburger Landgericht neigt sich einer der letzten Nazi-Kriegsverbrecherprozesse in Deutschland dem Ende zu.

Außer Frage steht vor Gericht, dass Engel aus heutiger Sicht moralisch und ethisch eines schweren Kriegsverbrechens schuldig ist – der Ermordung von Kriegsgefangenen. Die juristische Brisanz liegt woanders: Hat der damalige SS-Sturmbannführer aus eigener Motivation gehandelt? Oder befolgte er einen Befehl? Lag die Befehlsgewalt gar bei der Marine, so dass der SS-Mann nur Zaungast war? Alles Fragen, auf die das Gericht nach 58 Jahren systematischer Vertuschung, Unterdrückung und Vernichtung von Beweismaterialien durch die deutsche und italienische Justiz eine Antwort suchen muss, aber dazu kaum noch in der Lage ist.

Rückblende: Frühjahr 1944. Die italienische Armee unter dem Duce Benito Mussolini hat nach ihrem militärischen Debakel in Nordafrika, auf dem Balkan und nach der Landung alliierter Truppen auf Sizilien kapituliert. Der einstige Bündnispartner Deutschland besetzt daraufhin den Norden Italiens. Viele italienische Militärs gehen nach dem Bruch der Allianz gegen deutsche Truppen in den Widerstand und werden Partisanen in den Bergen.

In diesen Wirren wird der Hamburger SS-Sturmbannführer Siegfried Friedrich Engel nach Italien zum Sicherheitsdienst (SD) abkommandiert. Er übernimmt die Führung des Außenkommandos Genua. Engel gehört zu der neuen Generation überzeugter Nazis und SS-Offiziere. Intelligent, modern ausgerichtet, aber auch strategisch denkend. Schon während des Studiums ist er im NS-Studentenbund aktiv.

Im März 1944 werden 32 Soldaten einer paramilitärischen und deutschlandfreundlichen Tiroler-Einheit in Rom umgebracht. Als Reaktion ordnet der SD die Erschießung von 330 Geiseln per Genickschuss an. Auf einem Treffen in Florenz kommen die SD-Kommandeure in Ligurien zusammen und beraten die Lage. Bei ähnlichen Partisanenaktionen sollen künftig getreu einer Anweisung des Führers für jeden getöteten deutschen Soldaten zehn italienische Gefangene hingerichtet werden.

Hier setzt 58 Jahre später die Verteidigungslinie Engels an. Gab es tatsächlich einen Hitlerbefehl? Gab es zudem die Anweisung des Kommandanten? Engel behauptet, der befehlshabende Kommandeur habe ihm ausdrücklich erklärt, dass derartige Sühneaktionen an nichtuniformierten aktiven Kämpfern durch Hitler angeordnet und völkerrechtlich abgedeckt seien.

Als am 15. Mai 1944 Partisanen das Soldatenkino „Odeon“ in Genua in die Luft sprengen, wobei fünf deutsche Soldaten ums Leben kommen, ist die Reaktion vorhersehbar. „Es war uns klar, dass es eine Vergeltungsaktionen des SD geben würde, durch Geiselerschießung“, berichtet dem Gericht der damalige Oberbootsmaat der U-Boot-Jagd-Flottille, Walther Emig, dessen Marine-Kamerad bei dem Anschlag getötet wurde. „Es gab ja den Führerbefehl.“ Ob es nun einen telefonischen Befehl an Engel gab oder er aus eigener Motivation die Exekution von 60 Geiseln angeordnet hat, wird wohl nicht zu klären sein.

Fest steht: Bereits tags darauf geht eine Depesche heraus, nach der die „Sühnemaßnahme vom SD in Vorbereitung“ sei. Dass Engel diese Vergeltungsaktion als SD-Chef von Genua wahrscheinlich angeordnet hat, ist zudem daraus zu schließen, dass er 60 Gefangene aus dem Marassi-Gefängnis auswählt, obwohl es nur fünf tote Soldaten gab. „Es gab auch eine Meldung mit sechs Toten“, erklärt er vor dem Gericht. Engel räumt selbst ein, dass er die 60 Männer aus der Liste der Inhaftierten ausgesucht hat. „Ich wollte sichergehen, dass nicht Zivilisten, sondern nur Partisanen hingerichtet werden, die es verdient haben.“

Auch wenn Engel behauptet, alle weiteren Vorbereitungen seien danach an die Marine abgegeben worden, die sich förmlich aufgedrängt habe, da sie Vergeltung für ihre Kameraden haben wollte, ist das höchst fraglich. Denn der 93-Jährige brüstet sich auch damit, dass es ihm zu verdanken sei, dass die Hinrichtung ehrenvoll verlaufen sei. Den Gefangenen seien vorher die Fesseln abgenommen worden. „Auge in Auge“ hätte sie würdevoll in das Erschießungskommando blicken und sterben können. „Die Todeskandidaten haben mit dem Rücken zum Erschießungskommando auf dem Rücken der bereits Getöteten gestanden“, setzt Augenzeuge Emig dagegen: „Nur zwei haben sich umgedreht und Viva Italia gerufen.“ Und der Historiker Carlo Gentile erklärt: „Grundsätzlich lag die Verantwortung bei Sühnemaßnahmen beim SD.“ Emig ergänzt: „Die Truppenteile, die von Anschlägen betroffen waren, mussten sich beteiligen. Von meiner Flottille wollte keiner Rache.“

Dass die Regie beim SD lag, sagt auch Partisan Raimundo Ricci aus, Nummer 60 auf der Todeskandidatenliste, der in der Nacht der Exekution von der SS beim Appell vergessen wurde. Und Emig erzählt, dass die ausgewählten Gefangenen von SS-Leuten zu den Bussen für die Hinrichtung gebracht worden seien.

Wenn Engel behauptet, bei der Exekution nur Beobachter gewesen zu sein, kann Emig nur lachen. „Engel als Chef des Sicherheitsdienste hatte die Oberaufsicht.“ Laut Emig hat Engel sogar einem Untersturmbannführer in der Todesgrube gezeigt, wie einem Überlebenden der Hinrichtung der „Gnadenschuss gesetzt“ wird.