… und raus bist du!
: taz-Debatte „Berlin nach Pisa: Wo bleibt die Chancengleichheit?“ (Teil 11)

Ein anderes Selbstverständnis von Schule ist gefragt. Von Özcan Mutlu

Nicht erst seit den Ergebnissen der Pisa-Studie ist klar: Von Chancengleichheit kann im deutschen Bildungssystem kaum die Rede sein. Ganz im Gegenteil: Kinder aus armen und eingewanderten Familien haben es schwer. In Berlin besuchen sie vor allem Kitas und Grundschulen in den Innenstadtbezirken. Was tun mit diesen Bildungseinrichtungen? Wie können sie allen Kindern gleiche Chancen eröffnen? Diesen Fragen widmet sich immer dienstags eine Debattenserie der taz.

Denke ich an die ersten vier Jahre meiner Kreuzberger Grundschulzeit zurück, hätte sie sich eigentlich auch in der Türkei abspielen können: Der Unterricht fand nahezu ausschließlich auf Türkisch statt. Deutsche oder nichttürkische Klassenkameraden hatten wir nicht. Türkisch war nicht nur die Sprache unserer Eltern, sondern auch die unserer Nachbarn und Freunde. Lediglich unsere Mathematik- und Deutschlehrerin begegnete uns in der Sprache unseres damals so genannten Gastlandes.

Neben jener Lehrerin ließen mich jedoch das tägliche Leben und ganz praktische Notwendigkeiten allmählich die Landessprache erwerben. Mir fiel in der Familie die Aufgabe zu, alle möglichen Behördengänge zu erledigen, bei Arztbesuchen zu dolmetschen und dergleichen mehr. Nicht zuletzt auch im Jugendfreizeitheim, das von deutschen, türkischen und anderen Kindern frequentiert wurde, lernte ich Deutsch, wie Kinder eben Sprachen lernen: automatisch und natürlich – es geschieht einfach.

Ich habe es nie als Nachteil empfunden, zunächst nur auf Türkisch lesen und schreiben gelernt zu haben. Im Gegenteil, in meiner Muttersprache kein Analphabet zu sein, hat mir den Zugang zur deutschen Schriftsprache durchaus erleichtert. Muttersprachlicher Unterricht für SchülerInnen nicht deutscher Herkunft steht deren Integration keineswegs entgegen. Die Probleme liegen in monolingualen „Ausländerklassen“ und einsprachiger Umgebung.

Was Not tut, ist frühzeitig Sprachförderung zu betreiben, wie es beispielsweise in Schweden oder anderen skandinavischen Ländern üblich ist. Vom schwedischen Bildungssystem können wir überhaupt eine Menge lernen. Ich habe in meiner eigenen Schulzeit eigentlich nie erlebt, dass man sich für mich als Individuum interessierte. Es ging fast immer nur um unpersönliche Stoffvermittlung, ums Pauken und Bimsen. Mit meiner nicht deutschen Herkunft hatte das nichts zu tun. Umso mehr dagegen mit dem Selbstverständnis unseres Schulsystems. Für mich hat die Schule in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland bei der Förderung der SchülerInnen nicht deutscher Herkunft versagt. Die Schule als Institution hat es nicht geschafft, der gesellschaftlichen Realität gerecht zu werden. Die multikulturelle Gesellschaft ist kein Thema, weder bei der Lehrerausbildung noch in den Lehrplänen und Schulbüchern. Hier ist ein Kurswechsel längst überfällig.

Die deutsche Schule fühlt sich vor allem dazu verpflichtet, den Schülern durch ständige Leistungskontrolle nachzuweisen, was sie alles nicht können. Sie trennt die tatsächlich oder vermeintlich Leistungsschwächeren von den Leistungsstärkeren. An alle Schüler wird unbeschadet ihrer jeweils individuellen Situation ein abstrakter Leistungsmaßstab gelegt, dem man genügt oder eben nicht. Im Mittelpunkt stehen Auslese und Absonderung, und nicht die Förderung aller. Die Pisa-Studie hat gezeigt, dass dieses Prinzip allein schon vom Leistungsstandpunkt her nichts taugt.

In Schweden begreift sich Schule dagegen als im umfassenden Sinn pädagogische Einrichtung, nicht als Paukanstalt. Ziel ist die bestmögliche Förderung jedes einzelnen Kindes. Der Schüler selbst steht im Mittelpunkt. Dieses Anliegen bedingt natürlich ein ganz anderes Berufsverständnis der Lehrenden als hierzulande. Ein schwedischer Pädagoge sagte mir kürzlich: „Die Schüler sind doch meine Kinder.“ Das von einer deutschen Lehrkraft zu hören, kann ich mir nur schwer vorstellen. Nicht, dass es unseren Lehrerinnen und Lehrern an Engagement mangelt. Ich weiß sehr wohl, was Lehrkräfte leisten und zu leisten bereit sind. Es ist der Grundansatz unseres Schulsystems, der auf falschen Annahmen beruht, immer wieder falsche Rahmenbedingungen setzt und den Schulen keine Gestaltungsspielräume lässt.

Etwa 75 Prozent der schwedischen Jugendlichen erlangen die Hochschulreife, vorher haben sie eine neunjährige gemeinsame Schulzeit durchlaufen. Es gibt praktisch keine Möglichkeit, schwächere Schüler einfach in andere Schultypen abzuschieben. Dies läge auch nicht im Interesse der Schulen, denn ihre Mittelzuweisung richtet sich u. a. nach der Anzahl der Schüler. Wechselt ein Schüler die Schule, „wandert“ der auf ihn entfallende Betrag mit.

In Berlin sind die Mittel für die Förderung der SchülerInnen nicht deutscher Herkunft seit 1995 nicht zuletzt im Vorschul- und Grundschulbereich um etwa die Hälfte gekürzt worden. Förderstunden wurden gestrichen, viele wertvolle Jugendfreizeiteinrichtungen sind nahezu verschwunden. Ein Ende dieses Streichkonzerts ist nicht abzusehen.

Bildung hat Priorität – darüber sind sich alle Parteien einig. Leider spiegelt die Arbeit des SPD-PDS-Senats dieses in keiner Weise wider. Ich meine, es gibt durchaus einen Zusammenhang zwischen den fehlerhaften Prioritäten unseres Bildungssystems und seiner chronischen Unterfinanzierung.