Orpheus im Chatroom

„Ich gebe dir, was du brauchst“: Kristo Sagor ist der erfolgreichste deutsche Nachwuchsdramatiker. In einer Sprache zwischen Poesie und Schnoddrigkeit behandelt er die Lebenslügen seiner Generation

von AXEL SCHOCK

Für einen Moment ist Gundula ganz für sich und starrt aus der Abfertigungshalle hinaus auf die Landebahn zu den Flugzeugen. Was da startet und landet sind „Kalte Vögel. Durstige Vögel. Fette. Vögel. Zu fett, viel zu fett, bierbäuchige Krüppel. (…) Sie sind laut. Sie stinken. Sie kopulieren. Sie sind hässlich wie Tauben. Sie sind krank. Sie kotzen spektakelnde Touristen aus, die alles mit Müll und Lärm überziehen.“ Gundula ist eine der Hauptpersonen in Kristo Sagors derzeit erfolgreichstem Stück „Durstige Vögel“. Und Sagor einer der derzeit erfolgreichsten deutschen Nachwuchsdramatiker.

Das Germanistikstudium des jungen Autors liegt erst einmal für ein Urlaubssemester auf Eis. Anders bekäme Kristo Sagor sein Leben als Dramatiker derzeit gar nicht geregelt. Zwei Uraufführungen in dieser Saison, für das Schauspielhaus Hamburg sitzt er momentan an einem Auftragsstück, ein Filmdrehbuch liegt gerade beim Produzenten. Im Herbst wird er in München ein eigenes Stück inszenieren, und für den Sommer hat ihn die Autorenwerkstatt des Royal Court Theatre nach London eingeladen. Man hat ihm Preise überreicht, beim Stückemarkt in Heidelberg ehrte man ihn im vergangenen Jahr mit dem Publikumspreis, und die Presse verpasste ihm das Etikett „Junge Nachwuchshoffnung“. Sehr vieles spricht dafür, dass der 1976 geborene Sagor nicht nur ein kurzfristiges Phänomen sein wird, das nur so lange währt, wie ihm der vermeintliche Bonus jungen Alters zugute kommt.

Mit seinen 26 Jahren wirkt Sagor tatsächlich noch ein bisschen jungenhaft, smart und unkompliziert. Keine Attitüden. Nach beinahe zehn Theaterstücken weiß Sagor ziemlich genau, was er von sich und vom Theater möchte, ohne dass er sein wissenschaftlich-intellektuelles Denken dabei aufdringlich in den Vordergrund schieben würde. Er schreibt über die Erfahrungen seiner Generation und also auch seine eigenen, aber er weiß diesen semiautobiografischen Stoff bereits handwerklich genau und professionell zu formen – und sich auch darüber auseinander zu setzen.

Mit „Dreier ohne Simone“, 1999 in Berlin von einer freien Theatergruppe uraufgeführt, bekam er den Fuß in die Tür des professionellen Theaterbetriebs. Sein Drama über drei Jungs, die verdächtigt werden, bei einer Klassenfahrt eine Mitschülerin vergewaltigt zu haben, wurde inzwischen vor allem von Jugendtheatern nachgespielt. „Dreier ohne Simone“ verpackt in schnoddrigem Ton die Befindlichkeiten Heranwachsender in ein langsam sich zuspitzendes Rededuell.

Wesentlich brüchiger und doppelbödiger sind hingegen die Charaktere in „Durstige Vögel“, in Bochum uraufgeführt. In der Wartehalle eines Flughafens treffen Gestrandete und Suchende aufeinander. Sie alle leben mit Lebenslügen, die sich dem Zuschauer erst nach und nach offenbaren und dadurch das Drama bis zuletzt mit einer luziden Spannung aufladen.

In seinen jüngsten Arbeiten gelingt Sagor bereits so etwas wie ein eigener Ton: Die im Alltag aufgeschnappte Sprache treibt er immer wieder ins Poetisch-Metaphorische und gibt ihr damit einen literarischen Anstrich, der nie gewollt daherkommt. „Am liebsten würde ich die Schnoddrigkeit bis zur Vulgarität steigern und das Poetische fremdwörterlastig machen“, erzählt Sagor.

Mit „Unbeleckt“ ist er für manche Dramaturgen bereits ein Stück zu weit gegangen. Auch hier steht wieder eine Beziehung im Mittelpunkt, diesmal zwischen zwei WG-Bewohnern. Ein schwuler Türke, der sich aus einer sadomasochistischen Obsession heraus seinem heterosexuellen Mitbewohner sexuell unterwirft: „Ich gebe dir, was du brauchst. Ich bin, was immer du willst.“ Das Stadttheater Heidelberg hat eine Inszenierung gewagt, die Kritiker, etwa jene der FAZ, waren befremdet. Wie kommt man auf einen solchen Stoff? Sagor antwortet prompt und kurz: „Man chattet.“ Eine Begegnung der virtuellen Art. „Ich war ganz überrascht, was mir da jemand anbot.“

Kristo Sagor reist momentan sehr viel zwischen den Theatern, die seine Stücke zeigen in München, Hamburg, Bremen. Manchmal zieht es ihn auch für einen Besuch zu seiner Familie nach Kroatien oder in seine alte Heimatstadt Lübeck. Im Jugendclub des dortigen Stadttheaters wurde 1993 zum ersten Mal ein Text von ihm gespielt. Die Arbeit in diesem Jugendclub war seine Lehrzeit. Sagor lernte aus der Perspektive von Regie, Musik und als Darsteller die Funktionsweise des Theaters kennen. Sein Mentor, der Filmregisseur und Dramatiker Kai Hensel, half ihm dabei, monologische Tiraden zu psychologisch charakterisierenden Dialogen zu entwickeln.

Statt eines Studiengangs Szenisches Schreiben hat Sagor sich für Literatur- und Sprachwissenschaft entschieden. Was ihn reizte, war der Gedanke, literaturgeschichtliche Grundlagen vermittelt zu bekommen. „Eine Absetzungshaltung kann man nur entwickeln, wenn man die Traditionen kennt, die man brechen möchte.“

Ob er für immer Dramatiker bleiben wird, ist für Kristo Sagor gänzlich offen. Auch wenn die Arbeit an Lyrik und Prosa derzeit eher brach liegt, weil alle Fantasien sich gleich in im Dialog stehende Theaterfiguren entwickeln. Aber in gleicher Weise fühlt sich Sagor auch als Regisseur, Fotograf und Musiker. „Ich sehe mich einfach als Künstler. Aber vielleicht schaue ich in zehn Jahren zurück und stelle fest: Du bist doch ein Dramatiker geworden.“