Die Wahl haben – aber nicht wollen

Warum vierzig Prozent der französischen Wahlberechtigten am Sonntag keine Stimme abgeben wollten

PARIS taz ■ Mit „Ekel vor den Politikern“, dem „Gefühl, von niemandem wirklich vertreten zu werden“, und der Überzeugung, „dass alle Politiker korrupt sind“, begründen viele Franzosen ihre Nichtwahl. Oder sie sprechen vom „schönen Wetter“.

Frankreich, wo hohe Wahlbeteiligungen jahrzehntelang die Regel waren, hat dieser Sonntag einen neuen Negativrekord gebracht. 40 Prozent der Wähler sind nicht an die Urne gegangen. Die Nichtwähler stellen damit den Großteil der französischen Wahlberechtigten dar. Infolge ihrer Massenenthaltung kann niemand in der neuen Nationalversammlung – auch nicht die große UMP – behaupten, die Mehrheit der Franzosen zu vertreten.

Entschieden stärker als die Konservativen haben die Parteien der Linken unter der Enthaltung gelitten. Viele Wähler, die von der sozialliberalen Politik der rot-rosa-grünen Regierung enttäuscht waren, blieben daheim. Zweites Enthaltungsmotiv für traditionelle Linkswähler war die Kohabitation: Viele, die aus Gründen der politischen Klarheit keine neue Kohabitation wollten, aber auch nicht bereit waren, ihre Stimmen einem Konservativen zu geben, enthielten sich ebenfalls.

Nichtwähler sind nach der Statistik meist junge Leute und solche mit relativ niedrigem Ausbildungsniveau. Die Frankreichkarte zeigt, dass dort wenig gewählt wurde, wo das „populäre Frankreich“ lebt: in den Vorstädten und den östlichen und südöstlichen Grenzgebieten, wo einst große industrielle Zentren lagen – von der Fischerei im Norden über den Bergbau, die Textil- und Stahlindustrie bis hin zu den Werften an der Mittelmeerküste. Zu den industriellen Hochzeiten war das gesellschaftliche Leben in diesen Regionen von linken Parteien, von linkskatholischen Organisationen und von Gewerkschaften beherrscht. Seit den Massenstilllegungen der Industrien – die vielfach infolge von EU-Entscheidungen erfolgten – gähnt in diesen Regionen ein gigantisches gesellschaftliches Loch. Vielfach sind es dieselben Gegenden, in denen bei den Präsidentschaftswahlen der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen besonders gut abgeschnitten hat.

Zusätzlich zu der steigenden Nichtwählerzahl müssen jene Wähler gezählt werden, die zwar aus „republikanischer Disziplin“ zur Urne gehen, jedoch einen ungültigen Stimmzettel abgeben. Ihre Zahl war auch am vergangenen Sonntag hoch. Begründung: Keiner der in der Stichwahl verbliebenen zwei oder drei Kandidaten vertritt ihre Interessen. Diese Wähler, die aus politischen Gründen ungültig wählen, tauchen in keiner Statistik auf. Hunderttausende ließen sich erst gar nicht in die Wählerlisten eintragen.

Wählen in Frankreich ist kompliziert: Es gibt keine Briefwahl, wer sich „vertreten“ lassen will, muss einen Vertrauten im eigenen Wahlkreis finden und seine Abwesenheit am Wahltag in einem bürokratischen Verfahren begründen. Doch damit allein lässt sich die Urnenabstinenz nicht erklären. Schon gar nicht wenige Wochen nach der massiven antifaschistischen Bewegung auf der Straße. Damals protestierten vor allem junge Leute aus der städtischen Mittelschicht. Sie schworen sich und dem Rest der Welt, dass sie künftig wählen würden. Scheinbar ging ein Ruck durch Frankreich.

Heute zeigt sich, dass der Elan des Mai nicht einmal die Beteiligten der antifaschistischen Bewegung in Schwung gehalten hat. Zu den Vorstädten und Industriebrachen ist er schon gar nicht vorgedrungen. DORA