Sonnenkönig für fünf Jahre

Nach dem historischen Sieg der Konservativen hat Jacques Chirac alle Macht in Frankreich. Was er damit zu tun gedenkt, hat er noch nicht verraten

aus Paris DOROTHEA HAHN

„Trop?“ – zu viel? – fragte das Boulevardblatt Parisien gestern, am Tag nach dem überwältigenden Wahlsieg der französischen Konservativen in dicken Lettern auf der Titelseite. Auch unter den Siegern kam die bange Frage auf: Was tun mit so viel Macht? Und Premierminister Jean-Pierre Raffarin, der rundliche Provinzler, der erst am 6. Mai nach Paris aufstieg und seither auf einer Sympathiewelle surft, dämpfte den Jubel: „Wir haben die Verpflichtung, nicht zu enttäuschen.“

Der Sieg der Konservativen ist historisch. Die erst vor zwei Monaten auf Chiracs Geheiß gegründete „Union für eine präsidentielle Mehrheit“ (UMP) zieht mit 364 Abgeordneten in die neue Nationalversammlung ein. Dabei hat die von oben gegründete Partei, die behauptet, das „Frankreich von unten“ zu vertreten, bislang weder einen Präsidenten noch Mitglieder, noch Statuten. Ihre Leute gehören noch den alten konservativen Parteien an, die sich demnächst auflösen wollen. Die Machtkämpfe um die künftigen UMP-Posten haben begonnen: Ex-Premierminister Alain Juppé will Parteichef werden. Ex-Premier Edouard Balladur sieht sich als Parlamentspräsident.

Ganz allein verfügt die Präsidentenpartei UMP jetzt über die absolute Mehrheit. Sie sind nicht einmal auf die zweite rechte Formation im Parlament angewiesen, die Zentristen der UDF. Die Linke ihrerseits kann künftig nur symbolisch Oppositionspolitik machen. Sie kontrolliert nicht einmal ein Drittel des Parlamentes. Am besten sieht es noch für die sozialdemokratische PS aus. Sie hat zwar 100 Abgeordnete verloren – darunter mehrere Ex-Minister und andere Prominente – aber ist nun zur unumstritten stärksten Kraft der französischen Linken aufgerückt. Die Kommunisten und Grünen sind nur noch Statisten, die Linksnationalisten von Chevènement komplett aus dem Parlament verschwunden.

Die Rechtsextremen, die noch bei den Präsidentschaftswahlen mit Jean-Marie Le Pen den zweitstärksten Politiker im Rennen hatten, gingen leer aus. Keiner der Rechtsextremen hat eine Stichwahl gewonnen.

Eine verschwindende Größe im neuen Parlament sind die Frauen: Sie belegen nur wenig mehr als ein Zehntel der 577 Sitze. Das unter den Rot-Rosa-Grünen verabschiedete Gesetz zur Parität hat keine Wirkung gezeigt. Statt ihre Listen zu feminisieren, nahmen die Konservativen finanzielle Einbußen für zu viele männliche Kandidaten in Kauf.

Für Chirac ist die blaue Welle, die am Sonntag über Frankreich rollte, eine Wiederauferstehung. Der Mann der vorzeitigen Parlamentsauflösung, der sich damit 1997 selbst in eine Kohabitation hineinmanövriert hatte, und der Mann des 21. April, der mit nur 19 Prozent der Stimmen das schlechteste Ergebnis eines scheidenden Staatspräsidenten bekam, ist seit Sonntag der mächtigste französische Staatspräsident seit Jahrzehnten. Mit der längsten Perspektive: Vor Chirac liegen fünf Jahre. Dafür gesorgt haben am 5. Mai das Plebiszit gegen die Rechtsextremen (82 Prozent für Chirac) und nun das massive Votum für eine kohärente Mehrheit im Parlament.

Chirac, der sich, abgesehen von der Außen- und der Verteidigungspolitik, bislang in allen anderen Fragen mit den Rot-Rosa-Grünen absprechen musste, kann künftig allein für Frankreich sprechen. Im Matignon-Palast sitzt nun mit Raffarin ein Mann seines Vertrauens. Raffarin war nicht Kandidat bei den Parlamentswahlen. Er wurde von Chirac als „sein Premierminister“ eingesetzt und gestern Vormittag bestätigt. Morgen will Chirac die komplette künftige Regierung ernennen. Sie soll etwas größer werden als die Übergangsregierung der vergangenen 6 Wochen. Aber fast alle Übergangsminister sollen im Amt bleiben. Bloß Europaminister Renaud Donnedieu de Vabres wird nicht mehr dazugehören. Der Abgeordnete hat Ermittlungen wegen Geldwäsche und illegaler Parteienfinanzierung am Hals. Gestern trat er zurück.

Schon in dieser Woche beim EU-Gipfel in Sevilla wird Frankreich anders auftreten. Aber darüber, was Chirac in Europa und im Rest der Welt vorhat, wissen die Franzosen nur wenig. Weder im Präsidentschafts- noch im Parlamentswahlkampf waren das Themen. Anders als im Präsidentschaftswahlkampf von 1995, als Chirac noch kurzfristig mit einem Referendum über den Euro liebäugelte, hat er dieses Mal zu allen EU- und zu allen internationalen Fragen geschwiegen: kein Wort über die Osterweiterung, über Konvent und Globalisierung, das französische Militärengagement in Afghanistan oder weitere Kriegspläne der USA.

Das Zauberwort lautet jetzt „Proximität“ – Nähe. Sämtliche UMP-Politiker führen es im Munde. Wie auch die anderen Stichworte, die der gelernte Werbefachmann Raffarin in Umlauf gebracht hat: „Bescheidenheit“ und: „Frankreich von unten“. Bislang steht einzig fest, dass es Einkommensteuersenkungen von 5 Prozent geben wird (die nur Besserverdienende betreffen, da 50 Prozent der Franzosen so wenig verdienen, dass sie nicht einmal Einkommensteuer zahlen) und dass die Budgets für Polizei, Justiz und Militär um Milliarden aufgestockt werden sollen.

Doch der Spielraum der Rechten ist trotz ihrer Mehrheit eng. Schuld sind die Finanzen und der Stabilitätspakt der EU. Nach einem unveröffentlichten Finanzprüfungsbericht aus Paris beträgt das Haushaltsdefizit für 2002 schon jetzt 40 Milliarden Euro. Aus Berlin hieß es gestern, dass Frankreich bereits ein Defizit von 2,6 Prozent erreicht habe und knapp vor einem „blauen Brief“ aus Brüssel stehe.