Hilfe für Hauptschüler

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Bald wird nicht mehr gelesen. Und: Wo kein Buch mehr ist, ist kein Kritiker – und auch kein Schriftsteller

Man könnte jetzt eine Selbsthilfegruppe gründen für alle, die den neuen Walser noch nicht kennen. Ein bisschen nervt es schon, wenn Bekannte einen plötzlich so bescheidwisserisch anschauen (Ach richtig, du hast ja noch nicht …), eine Pause machen und dann sagen: Doch, ich glaube, das würde dich interessieren! – Unklar blieb, ob sie mehr an die Stellen mit Habermas dachten, der hier Wesendonck heißen soll, oder mehr an den im Roman ungeschriebenen Essay über „die deutsche Ich-Wichtigkeit von Seuse bis Nietzsche“. Kann aber auch sein, sie dachten an die Besprechung des Buches „Mädchen ohne Zehennägel“ durch Ehrl-König. Wieso nennt der Walser Habermas eigentlich Wesendonck? Das war doch der reiche Kaufmann, der Richard Wagner sponserte, worauf ihm Wagner die Frau wegnahm, worauf Wagner erst die Wesendonck-Lieder schrieb und dann „Tristan und Isolde“. „Tristan und Isolde“ ist gewissermaßen die Gegenoper zur „Theorie des kommunikativen Handelns“. Nein, Wesendonck für Habermas passt gar nicht.

Ja, wenn wir das Buch gelesen hätten!

Schon klar, für die Minderheit, denen es Suhrkamp noch immer nicht zugeschickt hat, hat Walser es auch im Fernsehen vorgelesen. Aber das war zu spät. Oder die antisemitische Stelle war noch nicht dran. Und der Walser saß da so sommerabendlich vorm Bodensee … Ist es antisemitisch, in Erwartung einer antisemitischen Stelle einzuschlafen?

Jetzt ist es zu spät für die Selbsthilfegruppe. Vielleicht ist das gut so. Schließlich sind wir nicht die Einzigen ohne Buch. Man muss sich ganz langsam daran gewöhnen. Bald werden wir von Menschen umgeben sein, die haben nicht nur den neuen Walser nicht, die haben überhaupt kein Buch. Und die haben auch noch nie eins gelesen. Und die werden immer mehr, sagt die Buchhändlerin aus der Schönhauser Allee, die gerade ihren Buchladen für immer zumachte, genau in seinem 50. Jahr. Pisa sagt das auch. Denn im Kern ist Pisa ein Lesetest. Völlig klar, warum so viele Schüler keine Fahrpläne oder Gebrauchsanweisungen verstehen. Weil sie eben keine Märchen lesen. Das Fahrpläne-und-Gebrauchsanweisungen-Verstehen ist der natürliche Nebeneffekt des Märchen-Lesens. Nun gut, die bayerischen Schüler müssen im Unterschied zu den Bremern doch Bücher haben. Das wissen wir seit Sonntag. Aber ob es für Walser und Elke Schmitter reicht?

Elke Schmitter schreibt im Spiegel, der begründete Ehrgeiz des deutschen Bildungswesens sei es, „keinen Hauptschüler zu entlassen, der nicht wenigstens verstanden hat, was Antisemitismus ausrichten kann“. Überlegen wir mal, was der deutsche Hauptschüler dazu wissen muss. Punkt eins, Schmitter: gründliche Kenntnis der europäischen Geistesgeschichte, „ob es Luthers Invektiven sind, Grimms Märchen, Sprichwörter oder Nietzsche, ob es sich um Wagner handelt, um Hamsun oder Cioran“. Überall steckt Antisemitismus drin, sagt Schmitter. Haben Sie etwas bemerkt? Elke Schmitter hat eine Falle für den Bremer Hauptschüler eingebaut. Nicht Grimms Märchen. Zwar haben wir als Kinder nie bemerkt, dass die antisemitisch sind, und nun ist es zu spät. Aber Nietzsche! Elke Schmitter erklärt Nietzsche zum Antisemiten. Das ist aber echt unfair gegenüber dem Bremer Hauptschüler. Nietzsche war ja nun vieles, wahrscheinlich war er das allermeiste, aber ein Antisemit war er nicht. Wenn Nietzsche eins nicht ausstehen konnte, dann waren das die Antisemiten. Also muss der Bremer Hauptschüler auch noch Nietzsche gelesen haben, um zu wissen, an welcher Stelle der Spiegel ihn reinlegen wollte. Und wie schwer das sein kann, ahnt jeder, der schon mal „Ein Fisch namens Wanda“ gesehen hat. Und da reden alle von Unterforderung an der deutschen Hauptschule. Aber die eigentliche Prüfung steht erst noch bevor.

Unversehens steht der Bremer Hauptschüler vor dem Schmitter-Satz, dass es sich bei „Herabsetzungslust“ und „Verneinungskraft“ um „jüdische Eigenschaften“ handelt, genauer: um Eigenschaften mit „Nähe zu jüdischen Eigenschaften“ – also um quasijüdische Eigenschaften? Was soll der Bremer Hauptschüler jetzt tun? Soll er wie Frank Schirrmacher laut warnend „Antisemitismus!“ rufen? Ist der Spiegel etwa der Stürmer? Nein, ist er nicht. Das weiß auch der Bremer Hauptschüler schon. Oder soll er sich selbst anklagen? „Herabsetzungslust“ und „Verneinungskraft“. Beide hat er doch längst an sich selbst bemerkt. Ist er also in Wahrheit – ein Antisemit? An dieser Stelle zeigt sich der Wert wahrer Bildung. Denn wozu braucht man sie? Um sich von anderen Gebildeten nichts einreden zu lassen! Das Beste wäre, der Bremer Hauptschüler schreibt sofort einen Post-Pisa-Leser(!)brief an Frau Schmitter. Er sei zu der Überzeugung gelangt, kein Antisemit zu sein. Und es wäre ihm unmöglich, „Herabsetzungslust“ und „Verneinungskraft“ nur einem Teile der Menschheit zuzubilligen, denn keine Menschwerdung, auch die seine nicht, ohne jene beiden hervorragenden Eigenschaften! Identität durch Unterscheidung! Mit dem trutzigen Ausruf „Hegel!“ könnte er schließen.

Doch wenn der Brief abgeschickt ist, überfällt den Bremer Hauptschüler eine große Traurigkeit. Man muss also so viel gelesen haben, um zu wissen, was Antisemitismus ist. Und man kann auch noch irren dabei. Wer weniger liest, irrt weniger. Vielleicht ist es doch gut, dass das Buch gerade verschwindet. Der wissenschaftliche Buchmarkt in Deutschland, hört man, ist schon zusammengebrochen. Und auch die Verlage wissen: Dieses Jahr wird die Buchlandschaft umgepflügt.

Der Berliner Salonveteran Nicolaus Sombart erkannte den Zeitenbruch, in den er geriet, einst am Verschwinden der Dienstboten. Dass keine Dienstboten mehr da sind, fällt ihm heute noch auf. Aber seine große Bibliothek hat er behalten. Jetzt verschwinden auch die Bibliotheken. Und das hat Vorteile.

Der Mensch ist das Wesen, das eine Vergangenheit haben muss. Auch darin liegt das Bildungsproblem

Wo kein Buch mehr ist, ist auch kein Kritiker. Wo kein Buch ist, ist kein Schriftsteller. Der ganze Walser-Roman, Walser selbst – alle plötzlich gegenstandslos. Und der Bremer Hauptschüler muss sich den Antisemitismus nicht mehr anlesen. Denn schwer zu verstehen ist er schon. Der westliche Antisemitismus kam aus einer Modernisierungskrise, die sich ein teuflisches Ventil suchte. Aber die natürlichste Umwelt des Bremer Hauptschülers ist die Moderne. Das Allerkünstlichste, die abenteuerlichste, kraftvollste Hervorbringung des Menschen – eine Gesellschaft, die ohne quasi göttliche Mitte auskommt, die sich selbst regelt –, er erlebt sie als das Selbstverständlichste, als „Natur“. Doch sie ist ja nicht Natur. Die westliche Moderne begründet sich nur aus sich selbst. Das ist ihr größter Vorzug und ihr größter Nachteil zugleich. Sie hat keine Vergangenheit nötig. Die heute jung sind, spüren das. Aber der Mensch ist das Wesen, das eine Vergangenheit haben muss. Darin nicht zuletzt liegt das Bildungsproblem.

Ganz ohne Bildung versteht man wohl nur den Satz: Antisemitisch ist, wer sagt, die Juden sind selber schuld am Antisemitismus. Mensch, Möllemann!