Ich bin’s, der Held der kleinen Leute

Edmund Stoiber gewinnt auf dem CDU-Parteitag die Herzen der Delegierten – und präsentiert sich den Wählern als der bessere Gerhard Schröder

aus Frankfurt/Main PATRIK SCHWARZ

Zwölf Minuten. Zwölf Minuten Beifall für den Kandidaten. Deutsche Wahlparteitage setzen in diesem Jahr Maßstäbe, wenigstens was die Länge der Ovationen für ihre Protagonisten angeht. Doch es wäre zu einfach, die Hymnen, die Edmund Stoiber gestern für seine Rede erntete, die Rufe, den Jubel, die La-Ola-Welle, als reines Schauspiel für die Kameras abzutun. Das Fremdeln zwischen dem 60-jährigen Katholiken von der CSU und einer nördlicheren, jüngeren und protestantischeren CDU ist verschwunden – und daran sind nicht nur die Chancen auf einen Wahlsieg schuld, dessen Vorgeschmack den Delegierten mundet wie die Frankfurter Würstchen, die in der Halle gereicht werden.

Um die Harmonie hat der Kandidat zielbewusst geworben. Zum Beispiel am Abend zuvor. Da ist es weit nach 22 Uhr, und für Edmund Stoiber ist keine Rettung in Sicht. Ganz unten an die äußerste Tischecke ist er gerutscht, da wo Parteigrößen sonst nie sitzen, weil die Ecke in den Bauch piekst und die Band am lautesten ins Ohr dröhnt. „Oh Baby“ bläst es aus den Lautsprechern, und keine Merkel, kein Schäuble, kein Goppel sitzen schützend zwischen dem Kanzlerkandidaten und seinen neuen Verehrern. Der blonde Asket wird bedrängt von üppigen Brüsten in roten Dekolletees, von viel zu bunten Hemden und Stimmen, denen die großen Schlucke aus den Halblitergläsern mit „Binding Lager“ deutlich anzuhören sind. Immer tapferer blinzelt er aus trockenen Augen, während sein Leidenskampf von Edi-Fans so verzückt wie ungerührt auf Pocketkameras gebannt wird. Es ist „Hessenabend“ auf dem CDU-Parteitag, und die Basis ist unerbittlich in ihrer neuen Liebe für den Bayern.

Fleischsalatkrater und Senfpfützen

22 Uhr 35. Als ortskundiger Sherpa schiebt CDU-Generalsekretär Laurenz Mayer das Ehepaar Stoiber durch die Mondlandschaft aus Fleischsalatkratern und Senfpfützen. Der Mann, der Bundeskanzler werden möchte, nimmt selbst noch an Delegiertentischen Platz, die schon zur Hälfte verwaist sind. Ehefrau Karin hält panzerkreuzergerade mit. Sie sind das einzig wahre Stoiber-Team und zu zweit effektiver als Adenauer- und Franz-Josef-Strauß-Haus zusammen. 22 Uhr 38, Zeit für den nächsten Tisch. Karin Stoibers Lippen formen für die Zurückgelassenen ein stummes: „Wir sehen uns morgen.“ Der erste Mann der Union erackert sich seine Sympathien in der Schwesterpartei so systematisch, wie er einst die Details des Länderfinanzausgleichs erarbeitet hat.

Für die rot-grüne Konkurrenz stellt Edmund Stoiber jetzt eine ernste Gefahr dar. Seine Rede vor rund 1.000 Delegierten war geeignet, Furcht in die Herzen der Wahlkämpfer von der SPD-Kampa zu senken. Stärker als je zuvor präsentierte sich Edmund Stoiber als der bessere Gerhard Schröder. Dazu kopierte er den Sozialdemokraten in den zwei Rollen, die diesen 1998 zum Kanzler machten: Der CSU-Chef gibt den Schutzherrn der „einfachen Leute“ und den Rächer für einen Osten, der sich von Schröder so verraten fühlt wie zuvor von Kohl.

Im innerparteilichen Streit um das richtige Tempo für Reformen in der Sozial-, Steuer- und Arbeitsmarktpolitik versprach der Kandidat, nach der Bundestagswahl vieles besser, aber wenig brutal zu machen. Demonstrativ ging er auf Distanz zur „Großindustrie“, einer fast antikapitalistischen Vokabel, und verhöhnte Konzernchefs als „Leute, die Millionen von Euros verdienen und gleichzeitig fordern, den Gürtel enger zu schnallen“. Stoiber, der Volkstribun: „Wo sollen denn die Krankenschwester und der Busfahrer den Gürtel enger schnallen?!“ Ein Stoiber-Intimus sieht darin keine Anbiederung an den Wähler, sondern gute CSU-Tradition. „Wir sind die Partei mit dem größten Anteil an einfachen Leuten, vor der CDU und auch noch vor der SPD.“ Auf dem dünnen Seil der neuen Mitte balanciert Stoiber jetzt so schön wie kaum ein Unionskanzler zuvor. Nötige Reformen will die neue Regierung „ohne Zögern und ohne Zaudern“ durchsetzen, verspricht der Kanzlerkandidat, aber „die Arbeitnehmer und ihre Familien erwarten zu Recht auch Sicherheit“. Schröders Wahlkampfleiter Matthias Machnig hielt das immer für seine Erfindung – unter dem Slogan „Sicherheit im Wandel“.

Späth - Stoibers Aufschwung Ost

Als Schröders größtes Versäumnis könnte sich die Vernachlässigung des Ostens erweisen, dessen Stimmen ihm 1998 den Sieg bescherten. Stoiber stellte seinen wichtigsten Wahlhelfer Lothar Späth als Aufschwung Ost in Person vor. Herablassend konnte der CSU-Chef sogar Schröders Ostbeauftragten Schwanitz loben – als nett, aber nutzlos.

Bleibt die Frage: Mit welcher FDP will Stoiber regieren? Eine Koalition mit der SPD schlossen er und CDU-Chefin Merkel schließlich aus. Möllemann gilt in der Union als das geringere Problem. „Der spinnt, aber das ist nicht neu.“ Doch was schätzt Stoiber, der Schröder stets wegen seiner Mätzchen geißelt, an Guido „Schuhsohle“ Westerwelle? „Die Prozente“, sagt kühl ein Vertrauter.

Insgesamt gelang dem Kanzlerkandidaten gestern der beste Auftritt, seit er in der Bundespolitik ist: nicht weil seine Argumente so überzeugend waren, sondern weil der Redner so überzeugt war – von sich, von der Unterstützung beider Unionsparteien, von den Chancen auf einen Wahlsieg. Damit hat er den ungebetenen Gast vertrieben, der während der zwei Tage unter den tausend Delegierten Platz genommen hatte: die Angst vor einem unerklärlichen Desaster, wie es 1994 den siegesgewissen SPD-Kanzlerkandidaten Scharping um den Triumph brachte. „Jetzt kann uns den Wahlsieg nur noch die CDU selbst vermasseln“, sagt ein einflussreicher Funktionär aus Nordrhein-Westfalen, „und das ist ihr auch zuzutrauen.“