Bewegung zerlegen

Improvisation und Aufmerksamkeit anstelle konventioneller eiserner Ballett-Disziplin: Choreograph William Forsythe, in Frankfurt soeben knapp bestätigt, gastiert auf Kampnagel

von MARGA WOLFF

Er bricht mit der Tradition, und doch lässt sie ihn nicht los. Virtuos und von verwirrender Komplexität stellen sich die Choreographien von William Forsythe dar. Ganz so, als hätte er die hohe Schule der klassischen Tanzkunst durch eine Zentrifuge gejagt.

Dabei beruft sich der Amerikaner immer wieder auf das Ballett und gilt gleichsam weltweit als dessen radikalster Erneuerer. Dessen Formen rückt er zu Leibe, kehrt ihr Inneres nach außen. Ein Innen, das weniger psychologisch motiviert an die Oberfläche dringt, sondern von der anatomischen Zerlegung und Neuordnung der Bewegung herrührt. Der in dynamischer Vielfalt reagierende Körper ist das Ziel.

Am 21. und 22. Juni gastiert William Forsythe mit dem Ballett Frankfurt, das er seit 1984 leitet, auf Einladung des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Die Aufführungen finden jedoch auf Kampnagel statt, dessen offener Bühnenraum eher der Ästhetik von Forsythes Balletten entspricht. Seine Choreographien werden heute von Compagnien in aller Welt getanzt. So wird das Stuttgarter Ballett mit dem Forsythe-Stück The Vertiginous Thrill of Exactitude bei den Ballett-Tagen in der Hamburger Staatsoper auftreten – einer Choreographie von 1996, die in rasendem Tempo die Finessen des akademischen Tanzes ausspielt.

Doch gelten diese Arbeiten als vergleichsweise konventionell. Forsythes Experimentierwerkstatt und Ideenschmiede ist und bleibt das Ballett Frankfurt. Nik Haffner, der bis 2000 im Frankfurter Ensemble getanzt hat, und Gerald Siegmund, der als Tanzkritiker seit 20 Jahren die Arbeit Forsythes begleitet, machten sich jetzt bei einer Einführung im Malersaal des Schauspielhauses daran, das Phänomen William Forsythe genauer zu beleuchten. Lebhaft erinnerte sich Haffner an Phantasie und Enthusiasmus seines früheren Chefs.

7 to 10 Passages, eines der vier Stücke im Kampnagelprogramm, entstand da aus einem 15-minütigen gerichteten Zeitlupengang der Tänzerin Christine Bürkle. Nun bewegen sich alle Tänzer wie eine Wand konzentriert auf die Zuschauer zu.

Aufmerksamkeit ersetzt im Frankfurter Ensemble die eisernen Disziplin des Balletts, dessen Geist Forsythe immer wieder beschwört. Beim Joffrey Ballett begann der gebürtige New Yorker seine Karriere, bevor er 1973 24-jährig als Tänzer zum Stuttgarter Ballett ging. Körperspannung und Betonung der Vertikalen im Spitzentanz wechseln mit weichen Bewegungen, deren Fokus sich nach innen richtet.

Nichts Romantisches haftet dem Bewegungskodex an. Den Spitzenschuh setzt Forsythe als technisches und erotisches Element ein. Gerald Siegmund zog denn auch die Linie von Georges Balanchine zu Frankfurts Ballettchef. Zu tanzen allein um des Tanzes willen, diese Idee teilen beide.

Der Perfektion eines technisch geformten Körpers stellt Forsythe jedoch den hoch organisierten Körper gegenüber. One flat thing, reproduced, ein weiteres der auf Kampnagel gezeigten Stücke und Teil des Abendfüllers Die Befragung des Robert Scott, befragt ebenfalls die Technik. Lag es an der motorisierten Ausrüstung, dass Scott den Wettlauf gegen Amundsens Hundeschlitten verlor? Für Forsythe kann es nur Annäherungen innerhalb geöffneter Spielräume geben. „Gute Entscheidung!“ und nicht etwa „Schön getanzt!“ laute denn auch das Lob an seine Tänzer, betont Haffner.

Eine halbherzige und kurzsichtige Entscheidung haben indessen jüngst Frankfurts Kulturpolitiker getroffen: Forsythes Vertrag als Intendant des Ballett Frankfurt wird zwar über 2004 hinaus verlängert. Das TaT (Theater am Turm), dessen Intendanz Forsythe ebenfalls bis 2004 hat, wird aber geschlossen. Damit entfällt für das Ballett Frankfurt die einzigartige Spielstätte Bockenheimer Depot. Eine künstlerische Beschneidung ist das allemal für den unermüdlichen Macher, den die internationale Kritikergemeinde zum wichtigsten Choreographen gekürt hat.

Ballett Frankfurt/William Forsythe: Fr + Sa, 20 Uhr, Kampnagel k6; 28. Hamburger Ballett-Tage/Stuttgarter Ballett: Mi + Do, 26.6., 19.30 Uhr, Hamburgische Staatsoper