Zum Erbrechen vergnügt

Wenn auch der fieseste Freejazz die Gegensätzlichkeit des heutigen China nicht zu fassen bekommt: In Ning Yings „I Love Beijing“ wird der Zerrissenheit des Protagonisten mit aller filmtechnischen Macht Ausdruck verliehen

Schon ein ziemlich kurioser Anblick: Mit ihren aus den Boden gestampften Hochhäusern, die förmlich nach Fortschritt schreien, geht von der Pekinger Skyline eine dumpfe Bedrohung aus. Zugleich hat sie mittlerweile etwas Vertrautes, bildete sie in letzter Zeit doch oft die Kulisse für Geschichten aus einer sich im Umbruch befindenden Stadt. Die Wolkenkratzerfront als Grenzlinie zwischen kommunistischer und kapitalisierter Welt. Doch die blieb für die Prostituierte aus Zhu Wens „Seafood“ oder den Fahrradboten aus Wang Xiaoshuais „Beijing Bicycle“ Terra incognita.

Ende der Siebzigerjahre waren es die American Independents, die zur Kehrseite Manhattans führten, in heruntergekommene New Yorker Abrissviertel und abgefuckte Slumgegenden. „Stranger than paradise“ nannte man das Lebensgefühl fernab des Big Apple, und an irgendeiner Straßenecke stand garantiert John Lurie und blies die dazugehörige Melodie in sein Saxofon. Eine krude Mischung aus Light Jazz, Disco und schmalzigen Schlagern gibt die musikalische Untermalung von Ning Yings Film „I Love Beijing“. Die inoffiziellen, an der chinesischen Zensurbehörde vorbeigeschmuggelten Bilder sind noch auf der Suche nach ihrem Sound. Selbst der abgefahrenste Freejazz würde die Gegensätzlichkeit des heutigen China nicht zu fassen bekommen. WTO-Beitritt und Olympiateilnahme, zweihundert Millionen arbeitslose Bauern und eine rigide Bürokratie, die immer noch das Privatleben reglementiert – ein Koordinatenkreuz, in dem das Subjekt unter ferner liefen herumdriftet. Dann gibt es noch das traditionsbewusste China, dessen Druck auf den schmächtigen Schultern von Nin Yings Helden Dezi (Yu Lei) lastet. Einmal stellen sich Dezi und seine Braut dem Hochzeitsfotografen, in immer neuen und schrecklicheren Kostümen und mit gequältem Dauergrinsen. Nicht für sich, sondern für die Verwandten wird hier um die Wette gestrahlt. Eine simple Fotosession, und der schöne Schein ist im Kasten.

In Verknappungen und Ellipsen, Fragmenten und Detailaufnahmen verschafft sich die Zerrissenheit des Protagonisten mit aller Macht Ausdruck. Unvermittelt und unreflektiert, quasi eins zu eins gibt der Film die Eindrücke seines Helden wieder. So bestimmt sein befremdliches Erstaunen auch unsere Perspektive. Manchmal führt ihn der Job als Taxifahrer zu den neonbeleuchteten Shoppingmalls, dröhnenden Vergnügungsschuppen und russischen Luxusrestaurants des neuen Peking. Dann nehmen Abzocker, Betrüger und Glücksritter auf dem Rücksitz Platz, und das Peking des gerade angebrochenen Jahrtausends gleicht einem verwilderten Wilden Westen, dessen Regeln und Gesetze sich dem ahnungslosen Kerl nicht erschließen wollen.

Beim Essen in den heruntergekommenen Garküchen der älteren Viertel, beim Schwätzchen in der Gemeinschaftssauna der Taxifahrer und im morgendlichen Park mit seinen Tai-Chi-turnenden Alten scheinen Stadt und Bewohner wieder bei sich zu sein. Doch ist es nur eine Frage der Zeit, bis das gnadenlose Globalisierungsdenken auch diese letzten Rückzugsorte erobert. Die mächtige Skyline Pekings wirft jedenfalls ihre Schatten voraus. In Ning Yings Film wird gearbeitet bis zum Umfallen, mündet die Verweigerung in Selbstmord, und man vergnügt sich, bis man kotzt. ANKE LEWEKE

„Xiari Nuanyangyang – I Love Beijing“; Regie: Ning Ying. Mit: Yu Lei, Zuo Baitao, Tao Tong u. a.; VR China 2001, 97 Minuten, Termine siehe cinema-taz