exzessives reiben (oder: wie ich einmal fast schreiben lernte) von HARTMUT EL KURDI
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Während meines durchaus studierenswerten Studiums wurde ich einmal zu Recht eines Seminars verwiesen. Die Veranstaltung hieß „Expressives Schreiben“ und war Ende der 80er einer der wenigen Versuche, an einer deutschen Universität so etwas wie „creative writing“, also literarische Schreibpraxis einzuführen.

Da der Deutsche aber nicht einfach „kreativ“ schreiben kann, sondern stets etwas ausdrücken muss, wenn möglich etwas verdammt Ernstes und Wichtiges, nannte man das Ganze „expressiv“ und übertrug die Durchführung einem Dozenten, der ansonsten – das muss man fairerweise sagen – vielleicht Schlimmeres angestellt hätte: Bücher rezensieren oder Ritualmorde verüben zum Beispiel. Der Dozent, nennen wir ihn Dr. J., war damals Mitte 40, trug einen kurz geschnittenen Vollbart in der Art der iranischen Reform-Mullahs, auch im Winter Sandalen und eröffnete seine Sitzungen gerne mit der unglaublich anbiedernden Frage: „Na, haben Sie Ihr Müsli auch gut verdaut?“

Als ich diese Verbalinjurie zum ersten Mal hörte, wusste ich, dass das Schicksal grade mal wieder dabei war, sich einen üblen Scherz mit mir zu erlauben. Aber unsicher, wie ich als universitärer Abc-Schütze nun einmal war, traute ich mich nicht, sofort aufzustehen, dem Mann ein „No Sir, so nicht!“ entgegenzuschleudern und zu gehen. Also blieb ich. Um mich herum nur Abiturientinnen, die sich die gesamte Oberstufe danach verzehrt hatten, einem ebenso väterlich-vollbärtigen wie männlich-brusthaarigen Freund mit verständnisvoll-gierigem Blick ihre Gedichte vorlesen zu dürfen, um danach von ihm in den Arm genommen und getröstet zu werden. Wenig später erfuhr ich übrigens, dass sich tatsächlich zwei Studentinnen regelmäßig von der Lehrkraft bügeln ließen. Nur ein weiterer Mann hatte sich in das Seminar verirrt. Marco war Halbitaliener und Vollintellektueller und in dieser Mischung für Dr. J. natürlich eine Gefahr. Man konnte gradezu zusehen, wie der Neid den Dozentenbart minütlich grauer färbte, wenn der charmante Marco seine brillanten und geistreichen Texte vorlas und die Mädchenaugen zu glänzen begannen. Marco bekam von Dr. J. stets den gleichen Vorwurf wie ich. Wir seien zu oberflächlich, versteckten uns hinter „Masken und Witzen“ und schrieben nicht wirklich „expressiv“. Wie das funktionierte, zeigte er uns dann anhand seiner eigenen Texte.

Es war atemberaubend: Egal welche Schreibaufgaben er auch gestellt hatte – fast immer handelten seine Geschichten davon, dass ein Mann mittleren Alters sich in einer Krise befindet, junge Mädchen begehrt und seine Frau verlassen will. Irgendwann begannen Marco und ich, ebenfalls Stories zu schreiben, in denen ein Mann mittleren Alters sich in einer Krise befindet, junge Mädchen begehrt und seine Frau verlassen will. Beim ersten Text dieser Art machte Dr. J. einen überraschten, aber interessierten Eindruck, beim zweiten stutzte er und nach dem dritten bat er uns, sein Seminar nie wieder zu besuchen. Er lege keinen Wert auf unsere Bekanntschaft. Wir verstanden ihn.