Die Leiden des jungen B.

Der Profifußballer Michael Ballack, bislang verschrien als schnöseliger Jungmillionär, demonstriert im DFB-Trikot bisher ungeahnte Qualitäten, weigert sich aber weiterhin, den Anführer zu mimen

aus Cheju FRANK KETTERER

Am Anfang eines WM-Tages steht das ärztliche Bulletin, und an dessen Beginn wiederum die Wade der Nation. Derzeit ist es verhältnismäßig gut um sie bestellt. Sie wird von Tag zu Tag lockerer. Auf jeden Fall kann Michael Ballack seit Montag wieder mit der Mannschaft trainieren, auch einem Einsatz im Viertelfinale gegen die USA, so sagen es die Ärzte, sollte nichts im Wege stehen. Das sind nette Aussichten für den morgigen Freitag, und nicht nur bei Rudi Völler, dem Teamchef der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, sorgen sie für einen zusätzlichen Schuss gute Laune. Beim Gegner treibt die Botschaft dagegen aber Sorgenfalten hervor, so wie bei jenem amerikanischen Reporterkollegen, der sich gestern fürsorglich nach Ballacks Befinden erkundigte, das freundliche „Okay“ dann aber nur mit einem fluchenden „Oh, shit“ kommentierte, bevor er wortlos von dannen zog.

Das sagt einiges aus über diesen Michael Ballack und seinen Stellenwert im deutschen Fußball: dass es die Gegner „shit“, vielleicht sogar „bullshit“ finden, wenn er mitspielen kann. Dass Oliver Kahn es im Umkehrschluss gar „fatal“ fände, wenn der 25-Jährige ausfiele, unterstreicht das nur. „Im kreativen Bereich ist er für uns nicht zu ersetzen“, hat Kahn vor dem Achtelfinale gegen Paraguay bekannt gegeben, als Ballacks Einsatz tatsächlich auf der Kippe stand. Worum die DFB-Delegation übrigens eine großes Geheimnis machte, wohl auch, weil sie verhindern wollte, dass die frohe Botschaft allzu früh zu den Paraguayern dringt. Sicher, dass Ballack würde spielen können, war sich am Vorabend der Partie nur einer, Kahn nämlich: „Ich gehe davon aus, dass er dabei ist. Bei einer WM gibt es normalerweise keine Schmerzen“, hatte der Goalie gesagt.

Nun gehörte ein kräftiges Auf-die-Zähne-Beißen bis vor kurzem nicht unbedingt zu den herausragenden Charaktereigenschaften, die man dem Profifußballer Ballack nachsagte. Eher zählten ihn die Fußballreporter dieser Republik zur Weichei-Fraktion seines Berufsstandes, zur Schönspieler-Partei, die bisweilen wunderbar Fußball zelebriert und ein Match sogar entscheiden kann, aber nur, wenn ohnehin alles rund läuft. Kämpfen, grätschen, einstecken und austeilen – das waren nicht die Attribute, mit denen man den Fußball des jungen Herrn Ballack in Verbindung brachte. Der komme doch lieber so vom Platz, wie er raufgegangen sei: mit blütenweißem Trikot. So einer ist das, hieß es immer wieder. Präzise gesagt: einer dieser verschnöselten Jungmillionäre.

Alles geschenkt! Wenn’s denn überhaupt jemals so war: Vergessen! Schließlich muss sich ein Mensch, selbst ein Fußballer, auch ändern dürfen. Dass Ballack sich geändert hat, sieht man schon beim ersten Blick auf den Platz, wo er den Ball zwar immer noch besser behandelt, kunstvoller als alle anderen, zumindest in der deutschen Mannschaft, aber auch rennt und grätscht – und sich für keinen Job zu fein ist, und sollte das Trikot später stehen vor Dreck. „Er hat sich zum absoluten Charakterspieler entwickelt“, hat Reiner Calmund, der Manager von Bayer Leverkusen, wo Ballack zuletzt angestellt war, beobachtet, und sehen konnte man das just nach Ballacks letztem Spiel für Leverkusen, als Tränen die Wangen hinunterkullerten, aber keine Weichei-Tränen, sondern die eines Charakterspielers, der alles für seinen Verein getan hat und nun traurig Abschied nahm, nachdem er Bayer zuvor ins Finale der Champions League, des DFB-Pokals und auf Platz zwei in der Meisterschaft geführt hatte. Und auch Klaus Toppmöller, der Leverkusener Trainer, weinte Ballack eine dicke Träne hinterher: „Er ist nicht zu ersetzen. Er war der Chef im Ring.“

Genau das erwartet die Nation auch hier in Asien von Michael Ballack; und wenn Franz Beckenbauer in seiner gewohnt fahrlässigen Art eine Chefdebatte anzettelt, dann steckt darin mehr oder weniger offen auch Kritik an dem Neu-Münchner, der ja im zentralen Mittelfeld spielt und somit dort, wo die Chefs auf dem Platz zu Hause sind. Ballack weiß das, nimmt es zur Kenntnis und erklärt als Antwort den Unterschied zwischen einem Führungsspieler und einem Anführer: „Ein Anführer ist bei uns Oliver Kahn. Wenn er etwas sagt, hat das Gewicht, da hören alle darauf. Führungsspieler muss es immer mehrere geben, die Verantwortung übernehmen und prägend auf das Spiel einwirken.“ Einer unter mehreren Führungsspieler, so klingt es heraus, will er gerne sein, alleiniger Anführer der Mannschaft eher nicht. „Ich bin auf dem Platz nicht derjenige, der wie andere Spielmacher jeden Ball fordert und über den jeder Angriff läuft“, gibt Ballack eine Eigencharakterisierung seines Spiels ab: „Ich bin nicht der Fixpunkt der Mannschaft. Das war ich auch in Leverkusen nicht.“ Und selbst wenn er es dort gewesen wäre: „Ich bin in der Nationalmannschaft noch nicht so weit“, weiß Ballack.

Vielleicht arteten die Beurteilungen seines bisherigen Spiels bei dieser WM auch deshalb noch nicht in Lobeshymnen aus, zumal die deutsche Mannschaft Überragendes noch nicht zustande gebracht hat. „Wunschvorstellung und Realität klaffen manchmal ein bisschen auseinander“, hat Ballack in diesen Tagen gesagt, was für die Leistung der Mannschaft ebenso gelten könnte als für die eigene. Wobei in Ballacks Fall nicht vergessen werden sollte, dass der 25-Jährige schon im Vorfeld lange an einer Verletzung im rechten Fuß laborierte und nur ein Bruchteil der Vorbereitung mitmachen konnte und sich schon wieder seit einer Woche mit der Muskelverhärtung in der Wade herumplagt. Beides sind ebenso schmerzhafte wie hemmende Ausläufer einer langen und strapaziösen Saison, wegen der andere erst gar nicht mitgefahren sind nach Asien. „Er hat sich in den Dienst der Mannschaft gestellt, auch wenn er selbst dabei nicht immer so gut aussieht“, weiß Teamchef Rudi Völler die Dienste seines Spielmachers zu würdigen, der für weitere Einsätze prompt grünes Licht erteilt. Ballack sagt: „Eine WM ist der Höhepunkt einer Karriere. Da beißt man auf die Zähne und spielt zur Not auch unter Schmerzen. Außerdem weiß ich, dass ich besser spielen kann.“ Für die USA bedeutet das ganz schöner Bullshit.