berliner szenen

Tätowierter Familiensinn

Sobald die Hitze kommt, sehen die Menschen hässlich aus. Besonders in Berlin, wo sich morgens die Mutanten in U-Bahn-Wagen und an Imbissbuden zusammenrotten. Ja, sicher, sie sind Verlierer, und dass das Leben ihnen böse mitgespielt hat, lässt sich nicht ohne weiteres aus dem Gesicht schneiden wie Zellulitisfalten von Madonnas Popo. Und doch: Der Grusel geht um, wenn es Sommer wird in Berlin. Die Zeigefreude ist groß, die Hüllen fallen, und mit Speck fängt man Mäuse.

Da ist der vielleicht zwölfjährige Junge, dem der Frisör einen Frittenteller über den Kopf gestülpt haben muss: Messerscharf steht sein Meckischnitt vom Schädel ab. Dazu trägt er eine wadenlange Skaterhose, Gesundheitslatschen und ein T-Shirt mit einem Segelzeichen in der Mitte, zwischen schwabbelig hervorstehenden Brustwarzen. Mutter sitzt neben ihm in der U6, sie hat das gleiche T-Shirt an, nur in Rot, und für Oma blieb im Dreierpack das blaue Modell übrig. Auch die Tätowierungen zeugen von Familiensinn: Oma hat einen Revolver auf ihrem Oberarm, bei ihrer Tochter reichte es noch für ein Herz und der Enkel hat schon mal mit einem unsicher gestochenen A geübt. Zusammen wiegen sie ungefähr sechs Zentner, zusammen fahren sie zum Baden an den Flughafensee. Irgendwann sagt der Junge zu seiner Mutter: „Du heißt jetzt nicht mehr Monika, sondern Papa M“, und Mutter grunzt „Wat?“ zurück. Dann lacht sie laut los, ohne den Witz so recht verstanden zu haben. Ich auch nicht, ich hielt Papa M bislang für einen Indie-Elektroniker aus dem Umfeld von Stereolab. Vermutlich hat ihn der White Trash aus Tempelhof auf Viva entdeckt, beim Zappen während der Teleshop-Pause. Ein Grund mehr zum Abschalten.

HARALD FRICKE