themenläden und andere clubs: Eine klitzekleine Geschichte der Zeit
Langspielplatten durchsticken
Ich habe entdeckt, dass in Berlin die Uhren anders ticken. Nicht soundmäßig, heutzutage ticken neue Uhren ja ohnehin kaum noch: Neulich musste meine Freundin sich von einem Verkäufer darauf hinweisen lassen, dass sie ihre neue Armbanduhr doch bitte regelmäßig aufzuziehen habe, dazu sei das kleine Rädchen an der Seite. Das wisse sie, empörte sich meine Freundin. Dann fiel ihr ein, dass die ganzen Technomiezen von heute natürlich nur noch Digitaluhren tragen.
Jedenfalls ticken die Uhren anders als beispielweise in Kassel. In Kassel, wo die meisten Menschen aussehen wie Kontrolleure, spielte sich nämlich Folgendes ab, als ich dort am letzten Wochenende in einem „Schlemmerimbiss“ ein Brötchen kaufte: Ein fremder Kontrolleur stellte eine Flasche Toscana-Wein auf die Verkaufstheke. Die Verkäuferin sah den Wein, wandte sich dem Kontrolleur zu und fragte „War das Ihrer?“ – „Das WIRD meiner“, korrigierte der Kontrolleur kühl. Etwas später fragte ich im Documenta-Pressebüro nach der Toilette. Die Pressemaus stellte mir erst meinen Ausweis aus, übergab mir dann eine Werbetüte und schien meine Blase vergessen zu haben. „Und die Toiletten waren …?“ erinnerte ich. „Die Toiletten SIND im Vorraum“ betonte die Pressemaus höflich, aber eiskalt. Was lernen wir daraus? 1. Die Brötchenverkäuferin ist eine Zugewanderte. 2. Der Kasseler als solcher legt größten Wert auf einen grammatikalisch detaillierten Zeitgebrauch. 3. Die Toiletten vom Documenta-Pressebüro sind im Vorraum.
Auch die Waterkant tickt anders. Auf einer Party in Altona erzählte mir eine sympathische Tunte um die dreißig von einer Lieblingsbeschäftigung: Sticken. „Ach Gott, früher habe ich immer eine Hörspielplatte angemacht, und dann konnte ich stundenlang durchsticken.“ Was lernen wir wiederum daraus? 1. Diese komischen Kreuzstichmuster in Frauenzeitungen werden in Hamburg nicht nur von Omas gesammelt. 2. Der Hamburger an sich scheint eine gehörige Portion Zeit totzuschlagen zu haben. 3. Ich kenne jetzt jemanden, der kaputte Minirocksäume hübsch umketteln kann.
Was lernen wir daraus für Berlin? Wenn ich zum Beispiel das viel zu schnell vorbeigegangene King-Khan-Konzert im Oxymoron gegen die Kassel-Messung und Hamburg-Langsamkeit setzen müsste, dann würde ich meinen, Berlin sei in einer Zeitzone genau zwischen Hamburg und Kassel, und wenn es in Hamburg erst halb acht Uhr abends ist, dann ist es in Berlin neun, und in Kassel bereits viertel vor zehn. Ich glaube fast, ich habe ein neues Zeitzonenmuster entdeckt, das sich heimlich im Nord-Süd-Gefälle horizontal durch Deutschland zieht. Werde das Ganze wohl unter Übel mal mit Stephen Hawking besprechen müssen. Hoffentlich hat er Zeit für mich.
JENNI ZYLKA
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen