Fünftausend gehen noch

Wie ein vertraglich geknebelter Schriftsteller die immense Arbeitsflut bewältigt

Etwas von meinen preußischen Romancharakteren sprang unversehens auf mich über

Der Baum vor meinem Fenster ist inzwischen grün geworden, ich dagegen bin kein bisschen braun, obwohl die Sonne schon seit Wochen ins Freie lockt. Zum Joggen auf der Königsheide hab ich keine Kraft mehr, zur halbvernünftigen Ernährung kaum Zeit. Die roten Samtvorhänge sind zugezogen, der Kronleuchter glimmt, der Computerbildschirm flirrt. Es ist Zeit, innezuhalten und einen Blick zurückzuwerfen.

In den berühmten Iden des März hatte mir, vertraglich geknebelter Autor dubioser Historienschwarten, plötzlich geschwant, dass es eng werden würde mit meinem neusten Produkt. Nach März kamen April und Mai – dann wär‘’s auch schon vorbei. Doch ich hatte nicht einmal angefangen! 280 Druckseiten entsprachen 465.000 Anschlägen, das machte bei 61 verbleibenden Tagen 7.623 zu schreibende Zeichen pro Tag. Der Taschenrechner glühte in meiner Hand. Leichthin erhöhte ich auf 10.000, um mir einen Ansporn zu geben und etwas Zeit zu schinden. Die Romanfiguren spurteten lustig los, im übertragenen Sinne freilich, denn sie gaunerten realiter im achtzehnten Jahrhundert herum.

Lesungen gegen ein paar müde Euro unterbrachen das Schreiben: Ohne Mikrofon, stehend unter freiem Himmel achtzig Schwerhörigen und dem Jagdschloss Grunewald zu predigen, wird mir unvergesslich bleiben, dito eine dreistündige Rundfahrt mit Lesung in einem Bus von 1969, bei der ich als Einziger keinen Sitzplatz bekam. Beim Bestattungskonzern Grieneisen signierte ich 150 Bücher in zehn Minuten. Freundlich nahm man mir die anheimelnde Illusion, die Papierbündel würden als Grabbeigaben verwendet – vitale Firmenkontakte sollten sie als Jahresgabe festigen!

Dank schlechten Wetters holte ich die Einbrüche in der Zeichenproduktion, die aus solchen Repräsentationspflichten erwuchsen, rasch wieder auf. Einmal konnte ich jedoch der Sonne nicht widerstehen, sattelte mein Motorrad und begab mich in den Park von Sanssouci nach Potsdam. Nicht zum Vergnügen, versteht sich. Das Programm war selbstredend auch hier gedrängt: Privatführung durch die Königswohnung im Neuen Palais, Erläuterung des Fontänen- und Bewässerungssystems, Sonderzutritt zum Archiv der Schlösserverwaltung zwecks Einsichtnahme in geheime Wasserbauakten.

Der Arbeitsausflug rächte sich. Abends rannen nur noch zehn schlappe Zeichen aus dem Hirn, ich neigte das Haupt mürbe gegen den flackernden Schirm. Nach den neuen Recherchen musste die Erzählung komplett umgebaut werden. Angesponnenes zerriss. Eine Lähmung der Hände, auch Schreibblockade genannt, gesellte sich erschwerend hinzu. Jetzt hatte ich den Salat. Fünfzigtausend Zeichen im Soll zu sein, ist nicht lustig. Verzweifelt erwog ich, den Bettel samt Flinte ins Korn zu schleudern.

Doch etwas von meinen preußischen Romancharakteren sprang unversehens auf mich über. Möglich aber auch, dass sich die längst gemutmaßte Verwandtschaft mit dem Baron von Münchhausen regte. Resolut riss ich mich am eigenen Schopf aus dem Motivationstief, dass die geistigen Wirbel knackten. Hier war es um mehr zu tun als nur um persönliches Befinden. Des Königs Ehre stand auf dem Spiel! Nach kurzer Überlegung entschied ich mich fürs Weitermachen, obwohl ich eigentlich nur drei Tage durchschlafen wollte.

Endlich siegte Beharrlichkeit. Nach einer Woche hatte ich bei durchschnittlichen Tageszugewinnen von 15.000 Zeichen erneut Land gewonnen. Sternstunde der Menschheit! Hinter Sternchen sah ich wieder einen Zehntausender vor mir, einen normalen Arbeitstag sozusagen.

Doch die Freude währte nur kurz. Unvermutet drohten gewisse, mir von Seiten gerichtsmedizinischer Berater ausgeredete, atypische Verhaltensweisen von Wasserleichen den ganzen Text unmöglich zu machen. Verstehen kann das freilich nur der Eingeweihte. In einer erneuten Kraftanstrengung bog ich alles wieder gerade, fiel beim Einkaufen indes vor Schwäche fast in den Landwehrkanal. Auch der gestrige Tag geriet flau.

Himmel, hilf! Noch zehntausend Zeichen wollen aufgeholt sein, die Lektorin wartet schon. „Kopf hoch!“, höre ich mich ungläubig sagen. „Nur nicht aufgeben: Fünftausend gehen noch bis zum Sonnenaufgang.“ Ein Schluck Bergerac bekräftigt diese Entschließung. „Freilich doch. Locker.“ TOM WOLF