Hyperrealismus im Heimatmuseum

In Prerow gibt es nicht viel zu sagen. Dafür gibt es das Meer. Und Urlauber, die auf Böschungen gehen, die noch nie jemand betreten hat, die neue Pfade trampeln und das Land wegtreten. Ein Urlaubsstreifzug durch ein Ostseekaff

Das muss eine richtig fette Explosion gewesen sein. Dort ist Sand aufgeworfen, sind Erdlöcher aufgerissen, liegen die zerfetzten Äste eines Baumes umher, hier sind ganze Böschungen weggeschrammt, an vielen Stellen gibt es Kabelsalat, Sturzbäche von Wurzeln, die sich abschnüren und auspressen. Der Ort, an dem in aller Seelenruhe dick eingepackte Spaziergänger vorbeigehen, ist unheimlich schön anzusehen.

Die Ostseeküste ist voll von diesen verwunschenen Bildern. Auf Hinweistafeln werden sie touristenfreundlich mit verlandungs- und anlandungsprozessualen Eigentümlichkeiten der Küstenvegetation erklärt. Ein paar Kilometer hinter der Küste ist man strenger.

Im Heimatmusem von Prerow, einem seelenberuhigenden Kaff auf der Ostseehalbinsel Darß, werden Kurgäste etwas hölperig mit sich und ihrer Entdeckerfreude konfrontiert. Im Urlaub erlauben sie sich auf einmal Sachen. Eben auf Böschungen gehen, die noch niemand betreten hat, rumturnen, neue Pfade bilden und immer schön Land wegtreten. In die vorgebildeten Schneisen kann der Wind dann vortrefflich reinhauen, Bäume und Hügel wegfräsen und im Wald erst richtig Domino spielen.

So weit der Museumstext. Gegen diesen Trampelpfad-Entdeckergeist wird der Kontinente umgreifende Entdeckergeist eines Prerower Seefahrergeschlechts dagegegen ausführlich geehrt. Die Scharnbergs hielten die Tradition vier Generationen lang aufrecht, von 1781 bis 1963. Der Kapitän der zweiten Generation, Eduard Scharnberg, segelte mit der „Treue“ von Liverpool nach Buenos Aires. In wessen Auftrag, unter welcher Fahne – darüber erfahren wir nichts. Unter welchen Umständen die Mitbringsel von dem Südseeausflug zustande kamen, auch nicht.

Wir sehen: ein „Häuptlingsschwert“, das aussieht wie ein Schwert, das von einem Häuptling stammt, außerdem: diversen Holzschmuck. Und dann gibt es noch etwas, worüber man eigentlich schweigen sollte, so für sich selbst sprechend und durch sich selbst seiend liegt es unter einer Vitrine auf einer sanften Erhöhung aufgeschlagen da: das Logbuch des Kapitäns Scharnberg aus dem Jahre 1884.

Ihm selbst fehlten die Worte. Die unendlichen Weiten des Meeres, die ständig zu überdenkende Möglichkeit einer Meuterei, die monotone Kost, die holzvertäfelte Kajüte mit ihren kleinen Extravaganzen, die keine Befriedigung mehr boten – all das muss ihm nach und nach die Wörter aus dem Leib gezogen haben. Die erste Eintragung an einem Märztag lautet „flau, still“, folgend durchvariiert in „SSW, ordinair, klare Luft“, „flau, mild, still, sehr schönes Wetter“ und „frische Brise, morgens flau“.

Draußen vor dem Museum liegen in einer alten Karre Bücher zum Verkauf aus. Bernstein-Sachbücher, Kladden von irgendwem und speckig gewordene Journale. Auch Romane. Einige gehen über Orte in Afrika, es sind von erzählerischem Beiwerk umsponnene Kolonisierungsgeschichten, die um Ferne und Heimat kreisen und sich an griffigen Markierungen und einprägsamen Bildern entlanghangeln – so einprägsam wie die Glocke des gestrandeten dänischen Dampfers unter einer der Glasvitrinen im Museum, ein Dankeschön an die Familie im Leuchtturm, die im Dezember 1921 die durchgefrorene Besatzung mit Tee und Rum aufpäppelte. Einprägsam wie der Bericht über den Brand auf der „Treue“, den sich Scharnberg von einem Rettungsboot aus ansehen musste, und wie das Bild dieser Unglücksszene, das einen Hyperrealismus, als es ihn noch gar nicht gab oder schon wieder gab, mit einem dick aufgetragenen Zuviel pflegt.

Auf der Strandpromenade von Prerow heißen die Schiffe „Alexander v. Humboldt“ und segeln unter der Fahne der EU. Buddelschiffe, unter deren gewelltem Glas das friedliche Meer ungefähr genauso aussieht wie auf dem Kai, wo sich für einen Euro ein Fernrohr hin- und herschwenken lässt. Bei klarer Sicht gibt es nicht viel zu sehen. Das Meer kräuselt sich. Möwen flattern und winken. Ein Schiff blinzelt. Schwache Brise, lau, mild. Schönes Wetter. Bevor das Ding sich ausklickt, zeigt ein Blick auf den Strand noch: Hier kann es auch richtig tosen.

MATTHIAS ECHTERHAGEN