„Heiß und fettig“

Der Bratling am Hafenrand ist geflogen. Ein beschauliches Ende. Aber kein geschichtsträchtiger Tag

Gehen ein Mathematiker, ein Koch und ein Kunsthistoriker auf eine Kunstaktion. Sie entscheiden sich für den „Superklimax“, den die Künstlergruppe Wuuul im Rahmen der artgenda am Hafenrand nahe dem „König der Löwen“-Zelt ankündigte. Genauer: Ein 800-Kilo-Riesenbratling, der mit einem Katapult in die Luft, gerüchteweise in die Elbe, geschossen wird.

Das funktioniert niemals, gibt der Mathematiker nach Inspektion der Wurfmaschine zu Protokoll. 1,6 Tonnen Beton in fünf Metern Fallhöhe bilden das Gegengewicht, mit dem das kompakte Grillgut per Drehmoment in die Luft geschleudert werden soll.

Ja, aber, wirft der Kunsthistoriker ein, man müsse doch erst das abschließende Resultat gesehen haben, der Bratling, der fliegt, bis man sich zu der Kunst äußern könne. Derweil beäugt der Koch kritisch den Bratling. Seit zwei Tagen wird er über Holzkohle gegrillt. Außen gut cross, ja, angebrannt, bleibt sein Nährwert (Inhaltsstoffe: Grünkern, alte Brötchen, Bindemittel) zweifelhaft.

Den realen Hunger müssen sich die Kunst-Pilgerer am Hafenrand mit Kasseler, Kartoffel- und Gurkensalat stillen. Sie verfolgen die Vorbereitung der Kunst-Aktivisten, die mit Comic-Stimmen Interviews geben und durchs Megaphon anheizende Sprüche in den Wind schießen: „Wir erwarten Demonstranten. Wo sind die Hungernden? Wo sind die Transparente, wo?“

Proteste und Rüpeleien bleiben an diesem Abend aber aus. Für die auf einem Grashang versammelten Zuschauer zählt vor allem der Spaß an dem Event. Um 21:15 Uhr wird das Grillrost mit Hauruck vom Feuer geholt. Mit einer Kettensäge wird ein Stück aus dem Rund tranchiert. Der angeschnittene Fladen dampft wie ein winterlicher Misthaufen, und die breiige Substanz splattert durch die Luft.

Doch der Versuch, das Tortenstück auf das Katapult zu transportieren, misslingt. Raunen. Hab ich ja gleich gesagt, sagt der Mathematiker. Der ist ja innen noch ganz weich, diagnostiziert der Koch. Ja, aber, sagt der Kunsthistoriker und observiert stille.

Das Bild einer fliegenden Bulette ist augenblicklich zerstört. Die vielleicht einzige wirkliche Irritation des Abends. Kunst ist nicht das, was man sich ausmalt. Wider Erwarten kann sie unperfekt, unschön sein.

Kurz vor zehn hebt sich der lange Katapultarm schließlich in den grauen Himmel und streut eine unspektakuläre Ladung Bratling Richtung „König der Löwen“. Das Happening löst sich auf. Der Mathematiker ist verblüfft; gut zwanzig Meter misst er im Sand. Die Wuuuler legen ihre Erklärungsverweigerungs-Pose ab und geben plötzlich bereitwillig und klar verständliche Statements in die zahlreichen Kameralinsen und Mikrophone. Der Koch steckt sich eine Handvoll Bratlingbrei als Reliquie ein. Und der Kunsthistoriker will sich gerade noch etwas Gewichtiges notieren, da hat er schon vergessen was. CHRISTIAN T. SCHÖN