Grausame Pflege

Ein Ehepaar pflegt die Mutter und ist jetzt der Körperverletzung angeklagt. Denn als die Mutter ins Krankenhaus kam, hatte sie Durchliegegeschwüre am ganzen Körper und war fast verhungert. Ist das Gewalt oder Überforderung?

von SANDRA WILSDORF

Dreimal am Tag sind sie zu ihr gegangen, haben sie gewindelt, ihr Essen gekocht und etwas zu Trinken hingestellt. Morgens, vor der Arbeit gegen 5.30 Uhr, nachmittags, nach Feierabend und dann noch mal am späten Abend. Sieben Tage die Woche. Jetzt ist die alte Frau tot, und Sohn und Schwiegertochter stehen vor Gericht. Angeklagt wegen Körperverletzung. Denn als die 85-jährige Frau ins Krankenhaus kam, wog sie nur noch 38 Kilo, war vollkommen vertrocknet und hatte Durchliegegeschwüre, „die waren so groß, dass der Körper nur noch stellenweise Haut hatte. Und einige waren so tief, dass man den Knochen sehen konnte“, sagt die Medizinisch Technische Assistentin, die sie im Krankenhaus gepflegt hat. Sie habe nur im Dunkeln gelegen, „weil sie das offenbar von zu Hause gewohnt war“.

Sie habe nicht mehr sprechen können und musste künstlich ernährt werden, jede Berührung verursachte ihr Schmerzen. Weil sie so lange nicht bewegt worden war, waren Muskeln und Sehnen so verkürzt, dass sie nur mit angewickelten Knien liegen und die Arme nicht mehr strecken konnte. „Das ist für mich das Schlimmste, was man einem Menschen antun kann“, sagt die Pflegerin und erstattete Anzeige. Zog sie aber wenig später wieder zurück. „Warum?“, fragt die Richterin. „Weil ich unter Druck gesetzt worden bin, von meiner Dienststelle. Mir wurde klar gemacht, dass ich mein berufliches Fortkommen vergessen könne, wenn ich die Anzeige aufrecht erhielte. Denn ich hatte meine Schweigepflicht gebrochen und den Dienstweg nicht eingehalten.“

Die Polizei ermittelte trotzdem weiter. Im Prozess versucht nun die Richterin herauszufinden, warum die alte Dame erst so spät ins Krankenhaus eingewiesen wurde und wie sie in so einen Zustand kommen konnte. „Haben Sie nicht gemerkt, wie ihre Mutter immer dünner wurde?“ Der Sohn antwortet: „Das habe ich darauf zurückgeführt, dass ich nicht mehr mit ihr spazierengehen konnte und ihre Muskeln zurückgegangen sind.“ Und: „Sie wollte ja nur Rosinenbrot und Brause, das habe ich ihr hingestellt“, sagt die Schwiegertochter. Und was haben Sie gegen die Geschwüre getan? „Die Frau Doktor hat Salbe und Verbände verschrieben.“ Ob es davon besser wurde? „Nein. Aber man hofft doch.“ Warum sie sie dann nicht in ein Krankenhaus gebracht oder einen Pflegedienst zu Hilfe geholt haben? „Ich hatte immer ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern. Von Anfang bis Ende“, sagt der Sohn. Aber seine Mutter sei etwas störrisch gewesen, „nach dem Motto, ihr Wille geschehe“. Pflegeheim, Pflegedienst, Krankenhaus habe sie kategorisch abgelehnt. „Sollte ich meine eigene Mutter entmündigen?“

Immer wieder beruft er sich auf „Frau Doktor“, die doch auch nichts davon gesagt habe, dass die Mutter ins Krankenhaus müsste. Und die habe doch gesehen, wie es aussieht. „Und da war es schon so schlimm?“, fragt die Richterin und hält Fotos hoch, auf denen man die handtellergroßen Geschwüre sieht. „Ja“, sagt die Schwiegertochter.

Die Ärztin bestreitet das vehement. Als sie die alte Frau zum letzten Mal vor ihrem Urlaub gesehen habe, da habe sie eine ein Zentimer lange Druckstelle über dem Steiß gehabt. Gegen die habe sie Salben und Verbände verschrieben. Drei Wochen später habe sie dann diese Dekubiti am ganzen Körper gehabt. „Ich war fassungslos und habe sie sofort ins Krankenhaus eingewiesen.“ Dort ist sie dann sechs Wochen später gestorben.

Was der Sohn jetzt empfinde, wenn Sachverständige sagen, die Mutter hätte geschrien vor Schmerzen? Zu Hause habe sie nie über Schmerzen geklagt. Am Ende sei sie etwas wortkarg gewesen, das schon. „Aber wenn sie im Krankenhaus geschrien hat, dann war das sicher ihr Widerstand“, sagt er. Die Verhandlung wird fortgesetzt.