VON DER ABSCHAFFUNG DER TODESSTRAFE SIND DIE USA WEIT ENTFERNT
: Menschlicher Fortschritt

Geistig behinderte Menschen dürfen in den USA nicht mehr hingerichtet werden. Der Oberste Gerichtshof beruft sich in seinem jüngsten Urteil auf einen Zusatz zur US-Verfassung, der dem Staat die „grausame und ungewöhnliche Bestrafung“ verbietet. Das ist bemerkenswert, denn der gleiche Gerichtshof war noch vor 13 Jahren der Auffassung, dass die Hinrichtung von geistig behinderten Häftlingen verfassungskonform und damit erlaubt sei. Woher der plötzliche Wandel?

Das gesellschaftliche Klima gegen die Todesstrafe ist günstig wie nie. In den vergangenen zwei Jahren wurden über ein Dutzend Fälle bekannt, in denen Häftlinge auf Grund falscher oder mangelnder Beweislage unschuldig zum Tode verurteilt wurden. Das legt den Schluss nahe, dass auch unter den Hingerichteten unschuldige Menschen waren. Dieser skandalöse Zustand des US-Justizsystems hat zwei mutige Gouverneure dazu veranlasst, ein Moratorium für Hinrichtungen zu verhängen und die Fälle aller Todeskandidaten erneut zu überprüfen.

Zudem wurde wie im Bundesstaat Illinois eine Expertenkommission beauftragt, die Praxis der Todesstrafe grundlegend zu prüfen. Ihr vorläufiges Ergebnis war ein Schock für die Befürworter von elektrischem Stuhl und Giftspritze: Um sicher zu gehen, dass niemand mehr unschuldig verurteilt und hingerichtet werde, müsse die Todesstrafe auf ganz wenige schwerste Einzelfälle wie Mehrfachmord begrenzt werden. Dennoch: Das Urteil spiegelt keinen breiten gesellschaftlichen Konsens wider. Immerhin haben drei Richter dafür gestimmt, die Praxis, auch Behinderte zu töten, beizubehalten.

Das Urteil ist Grund zur Freude für alle Gegner der Todesstrafe und wird in den USA als Etappensieg gefeiert. Es ist ein Fortschritt, anzuerkennen, dass die Tötung geistig behinderter Menschen unmenschlich ist. Damit wird die Tötung geistig voll zurechnungsfähiger Menschen aber nicht menschlicher. Von der Abschaffung der Todesstrafe sind die USA noch weit entfernt. Es steht eher zu befürchten, dass man den Gegnern mit diesem Zugeständnis den Wind aus den Segeln nehmen will.

MICHAEL STRECK