„Meister im Ausgrenzen der Schwachen“

Barbara Loer, Leiterin der Bremer Volkshochschule, sieht die PISA-Studie aus der Sicht derer, die kaum eine Chance haben und sich dennoch behaupten. „Wir reparieren die Folgen“, sagt sie und könnte dazu mehr Geld brauchen

Deutschland und Bremen ganz hinten im Schüler-Bildungsvergleich – die Leiterin der Volkshochschule Barbara Loer wundert sich, dass andere sich darüber wundern. Ein Blick aus einer anderen Perspektive.

taz: Die Bremer Volkshochschule ist im kommunalen Auftrag unter anderem zuständig für Grundbildung. Geht Sie PISA nicht auch etwas an?

Barbara Loer: Natürlich, denn wir reparieren die Folgen. Im übrigen ist an der Debatte über die Ergebnisse der PISA-Studie für mich vor allem überraschend, dass alle so überrascht sind. Für Leute, die in den 70er Jahren an den bildungspolitischen Debatten beteiligt waren, gibt es keinen Grund, überrascht zu sein. In den 70er Jahren war bereits klar, dass unser Schulsystem von seiner Struktur her auf Ausgrenzung angelegt ist. Das war einer der Gründe für die Gesamtschuldebatte – um dieser Ausgrenzung ein Ende zu machen.

Die Gesamtschulen waren anfangs finanziell üppig ausgestattet. Trotzdem gab es bald die Kritik, dass leistungsstarke Kinder da zu wenig lernen.

Es geht mir hier nicht in erster Linie um die Bewertung der Gesamtschule. Der eigentliche Skandal ist doch, dass Deutschland nach den Ergebnissen von PISA Meister ist im Ausgrenzen der sozial Schwachen. In keinem anderen Land stehen soziale Herkunft und Schulerfolg in einem derart direkten Zusammenhang. Solange das so ist, sollte uns zum Beispiel die Frage, welches Bundesland ein Stück weiter oben ist als das andere, nicht interessieren. Und ich rede hier nur über die deutschen SchülerInnen. Die Probleme der Kinder aus ausländischen Familien, die aus ländlichen Gebieten hierher geholt wurden oder als Asylbewerber kamen, sind noch größer, aber sie sind anders. In den letzten 20 Jahren hat das Schulsystem Jahrgang für Jahrgang SchülerInnen ausgespuckt, die nach den PISA-Ergebnissen nicht über die grundlegenden Kulturtechniken verfügen. Diese Menschen sind heute erwachsen. Wer 1990 mit 15 die Schule verlassen hat, ist heute 27 – und hat vielleicht inzwischen Lesen und Schreiben völlig verlernt.

Wer kümmert sich um diese Leute?

Fast ausschließlich die Volkshochschulen – und wir würden gern mehr tun, weil es dringend nötig wäre. Von 1993 bis 1995 ist die IALS-Studie gemacht worden, eine internationale Erhebung darüber, wie viele Menschen nicht über genügend Lese- und Schreibfähigkeiten verfügen, um zum Beispiel Verbraucherhinweise oder Formulare zu verstehen. Nach dieser Studie zählen etwa sechs Prozent der Bevölkerung zu funktionalen Analphabeten. Auf Bremen hochgerechnet sind das fast so viele, wie ins Weser-Stadion passen.

Was sind funktionale Analphabeten?

Leute, die die Schule mit wenig Lese- und Schreibkenntnissen verlassen und dann vermieden haben, diese wenigen Kenntnisse anzuwenden, weil sie damit auffallen würden. Ergebnis: Nach ein paar Jahren ist alles weg. Diese Menschen haben bewundernswerte Fähigkeiten entwickelt, um trotzdem im Leben klar zu kommen. Viele haben ein phänomenales Gedächtnis. Sie haben unglaubliche Taktiken, um zum Beispiel die Fahrprüfung zu bestehen. Aber sie sind abhängig. Sie sind darauf angewiesen, dass jemand in ihrer Nähe hörbar sagt, was Sache ist.

Wenn sechs Prozent der BremerInnen funktionale Analphabeten sind, dann müsste die Volkshochschule 30.000 in ihren ALPHA-Kursen haben…

Das hat sie natürlich nicht, wir erreichen gerade an die 150. Wir machen aber auch kaum Werbung dafür, weil die Kurse für uns sehr teuer sind. Für eine Person kosten uns die Abendkurse über vier Jahre mehr als 3.000 Euro. Wir würden gern mehr machen – das können wir aber nicht bezahlen.

Geht es da auch um den Hauptschulabschluss?

Nein. Viele von den Älteren haben ja einen Hauptschulabschluss und können trotzdem nicht richtig lesen und schreiben.

Was kriegen die TeilnehmerInnen am Ende? Einen Schein?

Ja, aber sie können diese Bescheinigung nirgends vorzeigen. Sie können, wenn es gut geht, lesen und schreiben. Und das bedeutet für sie ein neues Selbstbewusstsein, eine ungeheure Erhöhung ihrer Lebensqualität.

Fragen: K.W.

Vertrauliche Beratung: Monika Wagener-Drecoll, Tel 361-3675