Unterm bunten Strickpullover-Himmel

Die Anniversary-Tour zum 15-jährigen Bestehen des New Yorker Clubs und Labels Knitting Factory im Tränenpalast. Mit den Punk-Jazzern Gutbucket, Vibrafonist Bill Ware und dem Saxofonisten Charles Gayle, der dieses Mal Klavier spielt

New York im März 1992. Abends in der Kälte die Houston Street entlanglaufen, dann unter dem bunten Strickpullover-Himmel der alten Knitting Factory in den Taschen nach Dollars kramen für den Eintritt in die erste Etage. Die Knitting Factory war ein Mythos. Der Ort, an dem diese aufregend andere Musik gespielt wurde. John Zorns „Naked City“, Marc Ribot, die Jazz Passengers. Vorbei an kühlen, unbewegten New Yorker Gesichtern, am spöttisch musternden Blick der Eingeweihten. Es war die Zeit vor Giuliani, und in der Dunkelheit der spärlich erleuchteten Straßen trugen plastikbeutelbehangene Männer den Irrsinn im Gesicht.

Zwei Wochen später liegt in einem Plattenladen in Berkley eine Ausgabe des 4-CD-Sets „Live in the Knitting Factory“ mit einer siebenminütigen Soloimprovisation von Charles Gayle. Ein paar Monate nach der Rückkehr nach Berlin kleben Plakate in der Stadt: „The Knitting Factory Tour“. Man findet sich im Franz Club in der Schönhauser Allee ein. Es ist spät in der Nacht und das Publikum hat sich in schwitzende Gesichter verwandelt, als Charles Gayle mit seinem Tenorsaxofon auf die Bühne kommt. Er fällt in Trance, dehnt seine tiefen, murmelnden Improvisationen bis ins Unendliche, umkreist immer wieder die Teile seiner zerborstenen Melodie.

Als Ende der 80er-Jahre die Knitting Factory mit ausgewählten Bands auf einem Festival im holländischen Groningen auftrat, stellte Club- und Labelgründer Michael Dorf verwundert fest, wie viel Respekt der Musik entgegengebracht wurde, und erklärte: „In Europa ist Musik eine Kunstform, wohingegen sie in Amerika einfach nur Unterhaltung ist.“ Bei der Eröffnung der Knitting Factory 1987 gab es in New York außerhalb der privat organisierten Loft-Szene kaum Auftrittsorte für improvisierte Musik. Dorf, der – wie er sagt – völlig ahnungslos aus Madison, Wisconsin, nach New York gekommen war, wollte mit seinem damaligen Partner Louis Spitzer einen Performance- und Galerieraum mit Café eröffnen.

Auf der Suche nach seiner, aus alten Blue-Note-Platten und Bebop-Romanen herangebildeten, Vorstellung von einer „Jack-Kerouac-Smokyjazz-Clubexperience“ (Dorf) fand er eine Anzeige in der Village Voice: „Jazzband available“. Er wählte die Nummer und buchte das Wayne Horvitz Trio. Es war also fast zufällig, dass die jetzt unter dem Begriff „Downtown“ zusammengefaßte Szene in die Knitting Factory fand und umgekehrt. In einer Zeit der radikalen musikalischen Manifeste. Wie John Zorns „Radikal Jewish Movement“ oder Steve Colemans „M-Base“. Die Leute kamen, und trotzdem konnten gerade die Musikergagen gezahlt werden. Dorf machte eine Jazzfotoausstellung mit Bildern des im gleichen Gebäude lebenden Raymond Ross. Dazu entwarf er Plakate, die zum Beispiel Louis Armstrong und Eric Dolphy in der Knitting Factory ankündigten. Er erinnert sich: „Die Leute riefen an, wann Louis auftreten würde und wie viel Karten sie haben wollten. Wir sagten dann, Louis ist tot.“

Aber es war Dorf, der mit Jazzimpressario George Wein verhandelte und die Knitting Factory im etablierten JVC-Festival unterbrachte. Er mobilisierte Radio-DJs, und so wurden Konzertmitschnitte etwa von Fred Frith und Arto Lindsay landesweit übertragen. Mittlerweile hat sich die Avantgarde in den Köpfen etabliert. Musiker wie Charles Gayle, der lange obdachlos war und in der U-Bahn spielte, haben einen Plattenvertrag. Die Knitting Factory ist umgezogen in die Leonard Street und hat einen Club in Los Angeles gegründet. Auch in Berlin ist eine Knitting Factory geplant. Doch nach dem „Projekt Hollywood“ fehlt erst mal das Geld. MAXI SICKERT

24. Juni im Tränenpalast, Reichstagsufer 17, Einlass ab 20 Uhr