Ghost Gary geht um

Fortsetzung der Duseltour oder plötzlicher Ausbruch der Spielstärke? Wenn die DFB-Elf morgen gegen Südkorea um den Finaleinzug füßelt, dürfte sich ein gewisser Herr Lineker wieder bestätigt fühlen

Oliver Kahn warnt: „Die Mannschaft kann jeden Moment explodieren.“

aus Seoul FRANK KETTERER

Plötzlich hatte sich Gary Lineker unter die traurigen amerikanischen Spieler im Bauch des Munsu Football Stadium von Ulsan geschmuggelt. Er trug das Trikot von Tony Sanneh, ähnelte dem Abwehrspieler der Soccerboys auch sonst bis aufs Haar, und er sagte: „Das war ein typisches deutsches Spiel. Die können noch so schlecht spielen, sie gewinnen immer.“ Nur einen Augenblick später meldete sich Mister Lineker schon wieder zu Wort, nun als Torhüter Brad Friedel verkleidet, und meinte: „Das ist der Grund, warum Deutschland so gut ist: Sie sind nicht besser, aber sie gewinnen.“

Später soll der gute Gary sogar noch in den Redaktionsstuben der spanischen Zeitung El País gesichtet worden sein, diesmal als Sportreporter getarnt. Was er dort in seinen Computer hämmerte, las sich anderntags so im Blatt: „Die Deutschen spielen weder gut noch schlecht. Sie spielen eigentlich etwas anderes als Fußball. Aber am Ende gewinnen sie.“

Gary Lineker, der zweiterfolgreichste englische Stürmer aller Zeiten, war an diesem Abend von Ulsan überall. Das heißt: sein Geist, der in die verschiedensten Personen schlüpfte und sie immer wieder diesen einen Satz von sich geben ließ, seinen Satz: „Fußball ist ein Spiel für 22 Leute und am Ende gewinnt immer Deutschland.“ So war es schon damals, als Gary Lineker selbst noch den Ball in die Tormaschen drosch, und so ist es auch bei dieser WM, bei der die deutsche Mannschaft am Dienstag in Seoul im Halbfinale steht gegen Gastgeber Südkorea.

Dieser Lehrsatz aus dem Buch des Fußballs, der zwischenzeitlich ein bisschen an Glaubwürdigkeit verloren hatte, feiert ein großer Comeback. Denn, wie der Torhüter Oliver Kahn es schon gleich nach dem Match gegen die USA formuliert hatte: „Wenn man im Halbfinale einer WM steht, gehört man wieder zu den besten vier Teams der Welt.“ Und weil die Deutschen das wieder einmal auf ihre gewohnt deutsche Art bewerkstelligt haben, steht die Fußballwelt nun staunend vor dem Ergebnis – und findet es zum Kotzen. Oder, wie es die ehrenwerte L’Équipe verklausuliert schreibt: „Deutschland hat seinen Mythos wachgehalten. Man muss schon Deutscher sein, um das zu schätzen.“

Typisch deutsch. Das ist also die Zustandsbeschreibung, auf die sich die Expertenrunden geeinigt haben, wenn über den Auftritt der Deutschen bei diesem Turnier zu reden ist. Und „typisch deutsch“ findet es auch Michael Ballack, der deutsche Spielmacher, dass sich selbst in der fernen Heimat so manche harsche Kritik unter die Jubelnden gemischt hat „und wir uns für den Einzug ins Halbfinale fast noch entschuldigen müssen“. Zum Beispiel beim Fußball-Weisen Franz B., der gerade hat wissen lassen, dass er Spiele wie jenes gegen die USA während seines eigenen Teamchefdaseins „als persönliche Beleidigung“ aufgefasst hätte.

Noch am späten Freitagabend hatte die zuweilen irrlichternde Lichtgestalt zudem noch diese Feststellung getroffen: „Wenn man alle, außer Kahn, in einen Sack steckt und draufhaut, trifft man immer den Richtigen.“ Aussagen wie diese findet Rudi Völler „zu hart und übertrieben“, auch wenn man es „bei Franz ja gewohnt sei“ und schon deshalb „nicht so dramatisch sehe“, frei nach dem Motto: na ja, der Firlefranz eben. Anlass zu Kritik und Selbstkritik sieht Völler schon auch, im internen Rahmen soll er diese übrigens deutlich formuliert haben.

„Auch ich habe nach dem Spiel gegen die USA etwas betrübt dreingeschaut, was nicht typisch ist, wenn man das Halbfinale erreicht hat“, gab der 42-Jährige am Tag nach dem erbärmlichen Auftritt gegen die USA Einblick in sein Seelenleben. Vielleicht hat es Völler mittlerweile ja auch einfach satt, sich nach den Spielen seiner Mannschaft stets als Erstes für deren Leistung entschuldigen zu müssen. „Da muss einfach mehr kommen“, fordert Völler. Er tut es nicht zum ersten Mal bei dieser WM.

Die Gretchenfrage nach vier von fünf eher bescheidenen WM-Auftritten dürfte sein: Kann diese Mannschaft mehr und hat sie dieses Können nur geschickt versteckt gehalten? „Die Mannschaft kann jeden Moment explodieren“, sagt zwar Oliver Kahn, der eh immer vor der Explosion steht, im gleichen Atemzug aber fügt er auch an, dass schon das Viertelfinale gegen die Amis ein „typisches Beispiel“ dafür war, „was es bedeutet, wenn eine Nationalmannschaft wie unsere mit Spielern bestückt ist, die 70 Spiele auf dem europäischen Kontinent machen und auf der anderen Seite Spieler stehen, die 25 Spiele machen und sich seit 20 Wochen auf die WM vorbereiten“.

Kahns Folgerung: „Es ist einfach eklatant bei dieser Weltmeisterschaft zu sehen, dass diese Spieler einen Wettbewerbsvorteil besitzen.“ Frag nach bei Frankreich, Spanien, Portugal und Italien. Oder auf der anderen Seite bei Südkorea, dem Gastgeber, der einer der ausgiebigsten Profiteure von Kahns Theorie sein dürfte.

Dass die Südkoreaner „laufen können ohne Ende“ hat nicht nur Rudi Völler erkannt, fast ein wenig sorgenvoll klingt es, wenn er zugibt, darauf zu spekulieren, „dass es vielleicht ein kleiner Vorteil für uns ist, dass die zweimal in die Verlängerung mussten und einen Tag weniger zur Regeneration hatten“. Aber selbst wenn dem so sein wollte, lässt der Teamchef keinen Zweifel daran, „dass wir nicht nur fighten und kämpfen, sondern schon auch ein paar spielerische Impulse setzen müssen“, so wie es auch Oliver Kahn fordert, wenn er sagt: „Wir müssen jetzt einen Zahn zulegen und besseren Fußball spielen.“ Man denke an die Explosion. Und vielleicht brauchen Kahn und seine müden Kollegen ja das inspirierende Umfeld eines tobenden Stadions tatsächlich als Initialzündung, um aus ihrer Lethargie zu erwachen. Jens Jeremies, der am Dienstag für den angeschlagenen Didi Hamann (Bänderdehnung am rechten Knie) in die Anfangsformation rücken könnte, bekommt jedenfalls schon jetzt leuchtende Augen. „Das wird ein großartiges Erlebnis, gerade gegen den Gastgeber vor 70.000 Zuschauern.“

Miroslav Klose, der nun seit zwei Spielen torlose Stürmer, findet es schön, „bei einer WM gegen den Gastgeber zu spielen. Das wird eine heiße Aufgabe.“ Die auch ganz bestimmt keiner unterschätzt im deutschen Team.

„Südkorea hat bewiesen, dass es in der Lage ist, gute Mannschaften aus dem Turnier zu werfen“, sagt Christian Ziege. Andererseits: Dann hat die deutsche Mannschaft wohl doch nichts zu befürchten.