Kein Skandalurteil

Bundesgerichtshof: Ärzte sind haftbar, wenn sie Schwangere nicht auf Behinderungen des Fötus hinweisen. Diese Rechtsprechung nutzt auch behinderten Kindern

Die Ärzte sind bereits dann auf der sicheren Seite, wenn sie auf die Risiken einer Behinderung hinweisen

Sebastian hat keine Arme und nur verstümmelte Beine. Seine Eltern hätten ihn abgetrieben, wenn sie von der schweren Behinderung ihres Kindes gewusst hätten. Doch die Ärztin ignorierte die Indizien im Ultraschallbild. Nach der Geburt klagte die depressiv gewordene Mutter auf Schadensersatz – und bekam in allen Instanzen Recht. Auch der Bundesgerichtshof (BGH) entschied letzte Woche, dass die Ärztin den Unterhalt für Sebastian zahlen muss.

Ein Skandalurteil? Man könnte diesen Eindruck gewinnen, wenn man nach den entsetzten Reaktionen geht. Nie dürfe menschliches Leben als „Schaden“ bewertet werden, protestiert die evangelische Kirche. Jetzt müsse ein Arzt töten, um nicht schadensersatzpflichtig zu werden, entsetzt sich Norbert Geis, der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU. Und der katholische Familienbund sieht einen Dammbruch, „der die Gesellschaft verändern“ werde.

Tatsächlich jedoch verwundert die Aufregung – denn solche Urteile gibt es in Deutschland schon lange. Bereits 1980 entschied der BGH erstmals, dass ein Arzt nach falsch ausgeführter Sterilisation den Unterhalt für das später geborene Kind – wrongful life genannt – bezahlen muss. 1983 erweiterten die Richter diesen Ansatz auf unterbliebene Abtreibungen. Ein Arzt hatte damals nicht erkannt, dass die Schwangere an Röteln erkrankt war, worauf sie ein schwer behindertes Kind gebar. Wenn es einen Dammbruch gegeben hat, dann liegt er runde 20 Jahre zurück.

Bei der BGH-Entscheidung vorige Woche ging es also überhaupt nicht mehr um die Grundsatzfrage, ob von einem pfuschenden Arzt der Kindesunterhalt verlangt werden kann oder nicht. Vielmehr stand ein anderes Problem zur Prüfung: die vom BGH jetzt bestätigte Zulässigkeit von Spätabtreibungen.

Natürlich ist klar, dass die Wrongful-life-Rechtsprechung heikel ist und provoziert. Am Bundesverfassungsgericht führte sie sogar zu handfestem Streit. 1993 entschied der Zweite Senat in seinem Paragraph-218-Urteil, es verstoße gegen den Schutz der Menschenwürde, wenn ein Kind als „Schadensquelle“ angesehen werde.

Doch der Erste Senat erklärte seine Kollegen in dieser Frage für nicht zuständig und entschied 1997 im Sinne der bisherigen BGH-Linie: Nicht das Kind sei der Schaden, sondern die Unterhaltsverpflichtung, und dagegen gebe es nichts einzuwenden. Wer eine Sterilisation durchführe oder Schwangere berate, müsse eben sorgfältig arbeiten, sonst habe er für die Folgen einzustehen. Unmittelbar leuchtet das sofort ein. Warum aber bewegt uns der Kassandraruf vom „Kind als Schaden“ nach mehr als 20 Jahren immer noch so stark?

Im Vordergrund steht sicher die Furcht, hier werde die Selektion von Behinderten vorbereitet und legitimiert. Das aber ist schon im Ansatz falsch. Die kritisierte Rechtsprechung betrifft eben nicht nur unterbliebene Abtreibungen von behinderten Föten, sondern auch missglückte Sterilisationen. Und hiervon sind überwiegend nichtbehinderte Kinder betroffen.

Auch hat sich die Akzeptanz von Behinderten in der Gesellschaft seit 1983 wohl kaum verschlechtert. Im Gegenteil: 1993 wurde der Schutz Behinderter ausdrücklich im Grundgesetz festgeschrieben und zwei Jahre später wurde im Abtreibungsrecht die embryopathische Indikation gestrichen. So kann die Leibesfrucht heute (jenseits der Dreimonatsfrist) nur abgetrieben werden, wenn es die körperliche oder seelische Gesundheit der Schwangeren erfordert. Bis 1995 genügten bereits Anzeichen für eine Behinderung des Kindes. Und auch jenseits der Gesetzeslage gehört die öffentliche Sympathie heute doch recht eindeutig Eltern, die ein behindertes Kind großziehen, und nicht denen, die es abtreiben lassen.

Vermutlich hat sich herumgesprochen, dass es eine Welt ohne Behinderungen gar nicht geben kann. Schließlich entstehen die meisten Handikaps erst lange nach der Geburt, zum Beispiel bei Verkehrs- oder Arbeitsunfällen. Und da solche Unfälle jeden treffen können, sollte auch jeder ein zumindest abstraktes Interesse daran haben, dass Behinderte in unserer Gesellschaft ordentlich behandelt werden.

Selbst bei den umstrittenen Schadensersatzprozessen geht es eher um Integration als um Ausgrenzung. Vor Gericht wird ja lediglich geklärt, wer den Unterhalt des Kindes zu finanzieren hat: die Eltern oder der Arzt. Die Eltern bekommen zwar Hilfe von der Pflegeversicherung und – notfalls – von der Sozialhilfe. In vielen Fällen ist damit für das Kind aber kaum mehr als das Existenzminimum gesichert. Dagegen steht auf der anderen Seite die leistungsfähige Versicherung des Arztes zur Verfügung. Viele Eltern, die gegen Ärzte klagen, wollen vor allem, das es ihren Kindern an nichts mangelt. Würde die Wrongful-life-Rechtsprechung beseitigt, dann würde dies die Lebensbedingungen von behinderten Kindern nicht verbessern, sondern im Einzelfall sogar verschlechtern.

Auch den Ärzten droht nicht der Ruin, wenn sie einen Prozess verlieren. Schließlich ist es eine ärztliche Berufspflicht, sich (und damit auch die Patienten) für Haftpflichtfälle zu versichern. Die Befürchtung, Mediziner könnten, um Haftungsrisiken im Ansatz zu ersticken, Risikoschwangere künftig zur Abtreibung drängen, ist abwegig.

Ohne „Wrongful life“-Rechtsprechung ginge es behinderten Kindern nicht besser, sondern oft schlechter

Die Ärzte sind bereits dann auf der sicheren Seite, wenn sie auf die Risiken einer Behinderung des Kindes und die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik hingewiesen haben. Solche (non-direktiven) Hinweise sind auch nicht grundsätzlich abzulehnen. Schließlich sollen Eltern eine informierte Entscheidung treffen. Und natürlich gibt es auch Eltern, die sich von der Geburt eines vermutlich behinderten Kindes tatsächlich überfordert fühlen. Schließlich ist es mit dem Gebären allein nicht getan, vielmehr müssen alle bisherigen Lebenspläne hinterfragt und entsprechend verändert werden. Dass dies Anlass von Verzweiflung und Hoffungslosigkeit sein kann, liegt auf der Hand.

Auch Skeptiker fordern daher kein Verbot der Pränataldiagnostik, sondern nur ein „Zurückdrängen“. Nach Schätzungen der Lebenshilfe wird heute bei jeder zehnten Schwangerschaft eine Fruchtwasseruntersuchung durchgeführt, also in rund 80.000 Fällen pro Jahr. Ultraschalluntersuchungen gehören sogar bei allen Schwangerschaften zur Routine.

Oft werden dabei auch Eltern in eine Zwickmühle gebracht, die eine Abtreibung eigentlich nicht wollen. Denn auf die meisten auffälligen Testergebnisse kann weder mit Therapie noch mit Geburtsmanagement reagiert werden. Es bleibt nur der Abbruch oder die Hinnahme. Hier sollte durch Beratung sichergestellt werden, dass solche Eltern auch auf den Baby-TÜV verzichten können, um ihr Recht auf Nichtwissen in Anspruch zu nehmen. Wer aber selbstbewusste Eltern will, darf weder sie noch die Ärzte durch Horrormeldungen über vermeintliche ethische Dammbrüche verunsichern. Das deutsche Schadensersatzrecht ist ungefährlich – schon seit 20 Jahren. Und Kindern wie Sebastian nützt es sogar.

CHRISTIAN RATH