DIE UNION TAKTIERT, UM DIE STASIAKTEN UNTER VERSCHLUSS ZU HALTEN
: Unerhörte Anhörung

Normalerweise dienen Anhörungen im Bundestag dazu, ein Gesetz oder dessen Novellierung auf den Weg zu bringen. Bei der gestrigen Anhörung zum Stasi-Unterlagen-Gesetz war das Gegenteil der Fall. Die Experten wurden wieder mal geladen, um zu verhindern, dass Rot-Grün noch vor der Bundestagswahl eine Novelle auf den Weg bringt, die es den Stasinachlassverwaltern ermöglicht, auch weiterhin Unterlagen über so genannte Personen der Zeitgeschichte zu veröffentlichen. Die Union will die giftige Hinterlassenschaft der Stasi für immer in die Tresore verbannen. Um das zu erreichen, spielt sie auf Zeit. Exkanzler Helmut Kohl hat in eigener Sache ein Urteil erstritten, das die Veröffentlichung der Stasiunterlagen über Prominente und Politiker untersagt. Wer nun zu der zehn Jahre lang praktizierten Regelung der Stasi-Unterlagen-Behörde zurückkehren will, der muss nun nach dem Kohl-Urteil das Gesetz ändern.

Das sieht auch Sachsens Justizminister Thomas de Maizière so, der als einer der wenigen seine Partei, die CDU, auffordert, die „Blockadehaltung“ aufzugeben und dem Regierungsentwurf zuzustimmen. Die Konfliktlinien sind deutlich herausgearbeitet. Die Union fordert, nur die Prominenten selbst dürfen entscheiden, ob die über sie angelegten Akten veröffentlicht werden. Opferschutz heißt das Argument. SPD und Grüne wollen dagegen, dass die letzte Entscheidung von der Behörde der Bundesbeauftragten Marianne Birthler gefällt wird. Aufklärung und Aufarbeitung der SED-Diktatur heißt hier das Argument.

Der Streit zwischen diesen beiden Positionen ist so alt wie das Stasi-Unterlagen-Gesetz. Zur Erinnerung: In der DDR der Wendezeit waren die Stasiunterlagen unter Verschluss. Das Gesetz wurde erst im Bundestag 1991 verabschiedet – nach langen Debatten und im vollen Bewusstsein, dass damit der Opferschutz dem Aufklärungsinteresse untergeordnet wurde. Damals stimmte die Union dem Gesetz geschlossen zu. Heute schlägt sich die Union auf die Seite derer, die die Akten schließen wollen. Früher wurden solche Leute Wendehälse genannt. WOLFGANG GAST