Mit Moskauer Eis zur Milchstraße nach Schöneberg

Einfach zum Dahinschmelzen: Annett Gröschners unschuldiges Lese- und Verkostungsevent in einer Schöneberger Eisdiele

Was hat das Eiskaffee „Milchstraße“ in Schöneberg mit der Abteilung Kältetechnologie im ehemaligen Institut für Kühl- und Gefrierwirtschaft in Magdeburg zu tun? Antwort: Beide experimentieren mit Kompressionskältemaschinen, jenen eigenwilligen Gerätschaften also, die bei Bedarf (und nach Belieben) anspringen, eine Weile vor sich hin gurgeln und plötzlich wieder, als sei nichts geschehen, lautlos weiter kühlen. So jedenfalls tat es die italienische Gefriermaschine in der „Milchstraße“ am Donnerstagabend – just in dem Moment, als die Schriftstellerin Annett Gröschner aus ihrem Roman „Moskauer Eis“ las – und zwar die Stelle, in der die überlegene Technik einer Kompressionskältemaschine made in GDR gewürdigt wurde.

Doch das handverlesene Publikum hatte den Weg in die „Milchstraße“ ohnehin nicht gefunden, um die Überlegenheit westlicher Kältetechnik mit einem ebenso überlegenen Lächeln zu quittieren oder, was auch gut möglich gewesen wäre, um den von Gröschner mitgebrachten Abbildungen von Tiefkühltruhen des Kühlgerätekombinats Scharfenstein (Grönland G 60 S oder G 45 B) mit jenem wohlwollenden Interesse entgegenzutreten, wie man es sonst nur von Besuchern eines Völkerkundemuseums kennt. Nein, der Anlass jenes in Kooperation mit der „Literaturschneiderei“ Schöneberg veranstalteten Abends war schlicht und ergreifend eine „Eisverkostung“. Zu Begutachtung standen – nach jeweils drei Leseeinlagen der Autorin – drei Kugeln der Marke „Moskauer Eis“, „Europäische Union“ und „Globalisierung“.

Wer Annett Gröschner kennt, weiß, dass ihr der ganze Rummel um literarische Fräuleinwunders oder belletristische Crosspromotion eigentlich zutiefst zuwider ist. Selbst das Resümee der Literaturkritik, Moskauer Eis sei eine Metapher für die gefrorenen Verhältnisse in der DDR, lässt sie kalt. Umso erstaunlicher war es, dass die Gröschner an diesem Abend nicht nur las, sondern geduldig Auskunft gab, ja sogar die Eiskugeln der drei genannten Sorten eigenhändig zur Verkostung reichte. Und das alles, man wagt es kaum zu sagen, nur um am Ende einem biodynamischen Eishersteller aus der Kantstraße zu einem kostenlosen Geschmacksgutachten zu verhelfen. So nach der Art: „Moskauer Eis“ war ein wenig überaromatisiert, dafür war die „Globalisierung“ nicht konsistent genug, während die „Euopäische Union“ wiederum nicht farbecht war.

Aber halt: Wer nun glaubt, die Expertin für DDR-Kältetechnik habe sich vor den Karren der westdeutschen Konkurrenz spannen lassen, irrt: Der Ausflug vom Prenzlauer auf den Schöneberg geriet an diesem Abend viel eher zu einer Reise in die Vergangenheit, in jene Zeit also, in der man Kaffee noch aus Kännchen trank, Schlumpfeis noch der Zukunft angehörte und Spaghettieis die einzige Form der Globalisierung war. Und es war ein wenig wie eine Reise in eine Kleinstadt, zum einzigen Kulturereignis des Monats, zu dem alle kamen: Der Einzelhändler, die Nachbarin, die netten Mädels von nebenan, das eng umschlungene Pärchen und der Außenseiter mit Ziegenbärtchen.

Eine würdige Kulisse also für eine Geschichte über Schockgefrierung, Kühltemperaturkontrollen und Mindesthaltbarkeiten. Und eine ganz unschuldige Art des Events – Moskauer Eis fast ein wenig zum Dahinschmelzen und vor allem nicht so cool wie im Prenzlauer Berg. Kann gut sein, dass der ein oder andere Schöneberger bald nach Magdeburg fährt. UWE RADA