peter ahrens über Provinz
: Große Freiheit Ü 30

Wenn Junggebliebene aus Leer in die Disco gehen, wollen sie nur Musik hören, die sie schon hörten, als sie jung waren

Als in meinem Fernsehapparat vor Tagen halb bekleidete Glücksbeseelte mir zuckend ihre Zunge entgegenhielten und dazu Abbas „Dancing Queen“ gegeben wurde, fühlte ich mich an meine Kindheit erinnert. Damals hieß das allerdings noch nicht CSD, sondern Klassenfete, und so richtig glücklich war auch niemand. Woran der Ort des Geschehens seinen Anteil hatte: die Aula des benachbarten Mädchengymnasiums, das aufgrund der schwesterlichen Trägerschaft auch Nonnenbunker genannt wurde. Es war Karneval, also die katholische Variante des Christopher Street Day, und der wird in Westfalen selbst in der Pubertät ernst genommen. Alle waren nach Vorschrift verkleidet, was die Kontaktaufnahme mit dem anderen Geschlecht nicht erleichterte.

Vielleicht war aber auch die Maskerade als Zeitdieb aus Michael Endes „Momo“ die falsche Wahl, und „Percy Stuart“ wäre die bessere Alternative gewesen. Jedenfalls blieb für mich den ganzen Abend lang nur der unbeachtete Job als Gläserspüler und die Tanzfläche samt Tanzpartnerin unerreichbar fern, während die silbergraue Schminke langsam am Gesicht herunterlief. Der einzige Tanz des Abends galt „TNT“ von AC/DC, und das war kein Lied, das das Näherkommen unbedingt nach sich zieht. Es waren halt nur die wilden 70er-Jahre in Paderborn.

Wenn die Provinz heute tanzt, heißt das „Ü 30-Party“ und findet in der Großen Freiheit nahe der Reeperbahn statt, selbstverständlich am Samstagabend, wenn auch die Leute aus Bad Salzuflen, Leer/Ostfriesland und Papenburg/Ems die Sau rauslassen dürfen. Dann lassen sie sich mit Henker-Reisen für 29,90 Euro nach Hamburg kutschieren, Hafenrundfahrt, Musical-Besuch, anschließend Amüsieren. In eng zusammengeballten Kleingruppen trauen sie sich über die Straße, die ihnen in Werbeprospekten der Hamburg-Touristik als sündige Meile avisiert worden ist. Die lustlos heruntergeleierten Anfragen aus dem Leim gegangener Club-Animateure, ob sie mal richtig durchficken wollen oder zumindest dabei zuschauen möchten („hier alles echt, auch die Schwänze“), taugen nur begrenzt als vertrauensbildende Maßnahme. Solcherlei Angebote werden ihnen in der Leeraner Fußgängerzone (längste Fußgängerzone Ostfrieslands) eher selten unterbreitet.

Welch vergleichsweise traute Heimstatt ist dagegen die Große Freiheit und trotzdem verrucht genug, um in der Heimat etwas zum Bramarbasieren zu bieten. Die Beatles haben hier gespielt, die echten Beatles, vulgo Pilzköpfe geheißen. Heute wird John Travolta gespielt, denn heute ist Party „für alle Junggebliebenen ab 30 Jahren“. Gern wird das auch auf Plakaten betitelt mit „Jetzt schlägt’s 30“. Der DJ weiß: Junggebliebene ab 30 möchten Disco-Fieber der 70er-Jahre. Junggebliebene ab 30 möchten Donna Summer hören und Olivia Newton-John. Denn wer jung geblieben ist, hört ausschließlich Musik, die er hörte, als er jung war. Er hörte sie nur, weil keine andere da war, aber das interessiert den DJ nicht.

Witze über die Kleidung der 70er-Jahre zu machen war ein schönes Gesprächsthema auf After-Work-Partys Anfang der 90er-Jahre, also kurz bevor sich alle auf Plateausohlen die Knöchel verstaucht haben und ihre Gesichter in enge Kassengestelle drückten. Über englischsprachige Musik der 70er-Jahre, also die Musik, die Mal Sondock mittwochs abends in der WDR-Radiothek spielte, macht man keine Witze. Das Thema ist zu ernst. Ich muss hier nicht ausführlich aus der Playlist von „K-Tels Dynamite“ zitieren. Auszüge genügen: Carl Douglas, „Everybody was Kung fu Fighting“. Paper Lace, „The Night Chicago died“, Reunion, „Life is a Rock“. Lobo, „I’d love you to want me“, Oliver Onions, „Dune Buggy“, Paul da Vinci, „Your Baby ain’t your Baby“. Auf der B-Seite findet sich dann noch George McCrae, „Rock your Baby“. Leeraner und Papenburger freuen sich, wenn ihnen das heute wieder serviert wird. Da fangen 53-Jährige an zu wippen, da röten sich Halbglatzen, da wachsen Schweißflecken auf Polohemden, und der Gürtel beginnt sich zu weiten. Aber nicht zu doll und zu lange tanzen, denn Sonntagmorgen um sechs Uhr steht der Besuch auf dem Fischmarkt auf dem Programm. Bananen-Matthes wartet. Rechtzeitig zum „Tatort“ mit Batic und Leitmeier ist man wieder daheim.

Mal Sondock traf ich übrigens noch einmal: Da jobbte er im Western Saloon des Phantasialands in Brühl und sagte Videoclips an. Drei Leute saßen im Publikum und hörten ihm zu. Da wurde es Zeit, von den 70er-Jahren Abschied zu nehmen.

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