Herr, gib uns den Balla!

Die Leiden des jungen B., Teil II: Weil Michael Ballack wegen seiner zweiten gelben Karte im Finale gesperrt ist, weint der Delinquent. Derweil wandelt sich sein Tritt in der Verarbeitung zum Heldenritt

aus Seoul FRANK KETTERER

Noch in der Nacht des Einzugs ins Finale machten zwei Gerüchte die Runde. Das eine verhieß, Michael Ballack, der fürs Endspiel gesperrte Spielmacher der deutschen Mannschaft, habe in der Kabine geweint über sein Unglück. Das andere wollte genau das Gegenteil wissen: Der 25-Jährige, der in dieser Saison schon drei Titelchancen mit seinem Verein Bayer Leverkusen vertan hat, nämlich in Meisterschaft, DFB-Pokal und Champions League, sei in die Umkleide gekommen und habe genau aus diesem Grund und natürlich im Spaß zu seinen Kollegen gesagt: Hey, macht euch nichts draus! Vielleicht ist es ja sogar ein gutes Omen, dass ich nicht spiele.

Am Tag nach dem Einzug ins Finale saß Michael Ballack auf dem Podium der Pressekonferenz, die der DFB in den nächsten Tagen nicht mehr in einer miefigen Turnhalle, sondern in einem feinen Saal im noch feineren Sheraton Hotel von Seoul abhält, schließlich ist man bei dem Turnier hier in Asien endlich wer. Der Spieler Ballack saß also dort oben, sah etwas müde aus und wartete auf die Fragen der Journalisten. Zum Beispiel diese: Herr Ballack, was geht in Ihnen vor nachdem Sie eine Nacht über die gelbe Karte und Ihre Sperre haben schlafen können? Da hat Ballack mit dem Kopf gewackelt, während die Augen die Reihen abgetastet haben nach dem Fragesteller und der Befragte diesem schließlich geantwortet hat: „Natürlich ist man im ersten Moment traurig und es sind auch ein paar Tränchen geflossen. Aber vielleicht ist es ja sogar ein gutes Omen für die Mannschaft, dass ich nicht spiele.“ Und man hat auf einmal gewusst, dass die beiden Gerüchte aus der Nacht so falsch nicht waren.

Natürlich ist es traurig und bitter für Michael Ballack, am Sonntag beim Spiel aller Spiele nicht dabei sein zu können, zumal er es ja war, der die deutsche Mannschaft nur vier Minuten nach seinem Gelb-Foul überhaupt erst ins Finale geschossen hat mit seinem Tor. Für die Reporter in Asien ist es aber mindestens ebenso sehr der Stoff, aus dem sich ein Heldenstück stricken lässt, wenn auch ein tragisches. Inhalt: Junger Kerl opfert sich auf, obwohl er weiß, dass er darunter wird leiden müssen. Und Rudi Völler strickt an Ballacks Heldenwerdung kräftig mit, etwa wenn er unnachgiebig wiederholt: „Alle Spieler und alle in Deutschland müssen vor Michael den Hut ziehen, dass er ein taktisches Foul begehen musste, in dem Bewusstsein, im Finale zu fehlen. Was Michael heute getan hat, hätten vielleicht wenige getan. Er hat sich aufgeopfert für die Mannschaft.“

Tatsache ist, dass der Leverkusener in der 70. Minute Gelb sah, weil ein Kollege im Mittelfeld zuvor den Ball verloren hatte und nun der Koreaner Lee Chun Soo sich gefährlich dem deutschen Tor näherte. „Das kann man sich nicht aussuchen. Ich muss da foulen“, sagte Ballack bereits gleich nach dem Spiel – und versuchte, sich gegen die um sich greifende Heldenverehrung zu wehren: „Ich habe nur das gemacht, was jeder in der Mannschaft auch von jedem anderen erwartet hätte und was auch alle anderen in der Mannschaft getan hätten.“ Kahn war der Erste, der Ballacks verbales Zuspiel aufnahm, um es in den allgemeinen Konsens dieses Teams zu stellen. „Diese Szene mit Ballack zeigt eigentlich genau den Charakter der Mannschaft. Das ist ein typisches Beispiel für diese WM“, sagte Kahn, der daraus, gemäß seinem Credo bei diesem Turnier, folgerte: „Wir müssen jetzt noch enger zusammenrücken, und dann müssen eben andere Spieler Balla ersetzen.“

Wenn das nur so einfach wäre, wie es beim Mann zwischen den Pfosten immer klingt. „Es ist doch klar, dass man einen Spieler wie Michael nicht adäquat ersetzen kann. Er ist immer in der Lage, Tore vorzubereiten und Tore selbst zu erzielen“, strich Teamchef Völler mit sorgenvollem Blick Ballacks Stellung und Wert für die deutsche Mannschaft heraus, die übrigens auch in Zahlen leicht zu belegen sind, gerade bei dieser WM: So hat Michael Ballack nicht nur drei der fünf Tore von Miroslav Klose vorbereitet, sondern selbst zuletzt zwei ungemein wichtige erzielt, nämlich jeweils die Siegtreffer im Viertelfinale gegen die USA und nun auch im Halbfinale gegen Südkorea. Über diese Qualitäten verfügt, auch wenn der Leverkusener hier in Asien kaum im Vollbesitz seiner fußballerischen Kräfte ist, auch Didi Hamann nicht, der ohnehin eine ganz andere Spielauffassung hat und sich mehr als Ballverteiler sieht denn als Chancenvorbereiter und Vollstrecker.

So wie es derzeit aussieht, wird Hamann dennoch auf Ballacks Position rücken, rücken müssen, schon mangels Alternative. Deisler und Scholl fehlen ja schließlich. Für Hamann wiederum, das ist mehr als wahrscheinlich, dürfte Jens Jeremies in die zentrale, defensive Mittelfeldrolle rücken, er hat das schon im Spiel gegen Paraguay getan, als auch Hamann gesperrt war.

Eine weitere, wenn auch unwahrscheinliche Möglichkeit wäre es, Thorsten Frings in die Zentrale einrücken zu lassen und somit dorthin, wo er sich am wohlsten fühlt und zuletzt bei Werder Bremen ansprechende Leistungen geboten hat. Damit schlösse sich ein Kreis: Frings war der Kollege, der sich den Ballverlust erlaubte, der Ballack erst zum Heldentum zwang.