Die langen Schatten des Genozids

In Ruanda haben die „Gacaca“-Völkermordprozesse begonnen, auf denen Verdächtige vor Versammlungen ihrer Heimatdörfer gestellt werden. Acht Jahre nach dem organisierten Genozid an 800.000 Menschen sind die Ängste auf allen Seiten noch frisch

aus Kanombe ILONA EVELEENS

Tau glitzert in der Morgensonne auf dem Rasen. Hinter einfachen Holztischen sitzen neunzehn Männer und Frauen in ihren besten Kleidern und Anzügen. Vor ihnen drängen sich mehrere hundert Menschen. Es ist die Eröffnungssitzung des Gacaca-Gerichtes von Kanombe.

Kanombe, direkt an Ruandas internationalem Flughafen gelegen, ist ein historischer Ort. Hier wohnten früher viele Leiter des Hutu-Regimes, das 1994 den Genozid an 800.000 Menschen, zumeist Tutsi, organisierte. In Kanombe kamen am 6. April 1994 die Trümmer des Flugzeuges herunter, in dem Ruandas damaliger Präsident Juvenal Habyarimana saß – abgeschossen von unbekannten Tätern, Startschuss für den Völkermord.

„In Kanombe wurden während des Genozids 2.000 Menschen getötet“, erzählt Bürgermeister Eugene Karinamaryo. Aber er hat kaum Zeit, dem Verfahren zu folgen. Es ist ein buntes Treiben auf dem Rasen. Karinamaryo geht zu einem Taxifahrer und bittet ihn, sein Radio leise zu stellen. Dann scheucht er einen Jungen weg, der Nüsse und hart gekochte Eier zum Kauf anbietet.

An 11.000 Plätzem im „Land der tausend Hügel“ finden seit einer Woche die lang erwarteten Gacaca-Tribunale statt. Ihre Richter wurden letztes Jahr in den Gemeinden gewählt. Sie bekamen seitdem einen Kurs über die juristischen Regeln für Gacaca. Das System, wonach Recht auf Dorfversammlungen unter Leitung „integrer Menschen“ gesprochen wird, existierte schon vor der Unabhängigkeit, aber befasste sich damals nur mit Eigentums- und Familienangelegenheiten. Jetzt müssen die Dorfrichter über Morde entscheiden.

An diesen ersten Sitzungen nehmen die meisten Beschuldigten noch nicht teil. Zuerst geht es um praktische Fragen. Ein junger Mann fragt: „Sind Arbeitgeber verpflichtet, Arbeitnehmern freizugeben, um den Verfahren beizuwohnen?“ Gacaca-Präsident Jean-Damascine Murwanashyaka weiß das nicht. Er sagt nur, „dass jeder im Land versteht, wie wichtig diese Sitzungen sind“. Ein Bauer will wissen: „Wo finden die Zusammenkünfte statt, wenn es regnet?“ Der Präsident weiß das nicht. Er sagt: „Wir werden eine Lösung finden.“ Stimmung kommt erst auf, als ein älterer Tutsi fragt: „Welche Sicherheitsgarantien bietet die Regierung Menschen, die die Wahrheit sagen?“ Auch darauf haben die Richter hinter dem Tisch keine Antwort. Sie beschwören die Leute, keine Angst zu haben.

„Die Menschen schweigen lieber“

Eli Ndaruhutse stellte die Frage, weil, sagt er, „es noch so viel gegenseitiges Misstrauen gibt. Die Menschen schweigen lieber über die Wahrheit.“ Er und seine Frau überlebten den Genozid – ihre beiden Söhne nicht. Sie lebten damals nicht in Kanombe, aber er will nicht zum Gacaca-Gericht seines früheren Wohnsitzes gehen. Hat er Angst? Er lächelt schüchtern und schweigt.

Gacaca macht Erinnerungen in Ruanda wieder lebendig und damit auch Angst, sagt der niederländische Ethnologe Klaas de Jonge, der Sitzungen der Dorfgerichte als Beobachter besucht. „Ruandas Regierung sagt, dass keiner im Land mehr Tutsi, Hutu oder Twa ist. Jeder ist nur noch Ruander. Aber die erste soziale Identität ist nun mal hier die ethnische. Ein Tutsi sagt, ich wurde verfolgt und meine Familie ist tot. Ein Hutu denkt, dass die Überlebenden sich vielleicht rächen wollen, da es jetzt eine Tutsi-Regierung gibt.“

De Jonge hat ausgerechnet, dass es mindestens fünf Jahre dauern wird, bis alle inhaftierten Völkermordverdächtigen vor einem Gacaca-Gericht erschienen sind. Zusätzlich zu den 104.000 Gefängnisinsassen rechnet er mit 40.000 weiteren Anklagen.

Die Gacaca-Gerichte verhandeln nicht die schwersten Fälle und können auch keine Todesurteile aussprechen – das bleibt normalen Gerichten vorbehalten. Sie dürfen Haftstrafen aussprechen, die in gemeinnützige Arbeit umgewandelt werden können, zum Beispiel Straßenbau. Davor haben viele Angst, sagt Klaas de Jonge: „Die traumatisierten Opfer fürchten die Nähe der Täter.“

Aber eine Alternative zu Gacaca ist in Ruanda nicht in Sicht. Zeitweise waren über 125.000 Menschen in Ruanda wegen des Völkermordes inhaftiert. Die überlasteten Gerichte haben seit 1994 lediglich 6.000 Völkermordprozesse führen können.

Das Zentralgefängnis von Ruanda liegt auf dem Industriegebiet der Hauptstadt Kigali. Das koloniale Fort aus roten Ziegelsteinen wurde 1930 von den Belgiern errichtet. 6.621 Inhaftierte leben hier, davon 4.376 Völkermordverdächtige.

Die Gefangenen sind kurz geschoren und tragen rosa Uniformen: Männer eine Art Bermuda-Shorts und kurzärmliges Hemd, Frauen haben sich modebewusst verschiedene Kleidermodelle entworfen. Sie sitzen keineswegs untätig in Zellen. In einem Zimmer neben dem Büro des Direktors nähen Frauen Schuluniformen, über den Innenhof schleppen Männer Kochtöpfe. Alle halten kurz inne, als eine Bahre mit einem Toten vorbeigetragen wird. Die 41-jährige Euphrasie Mukaremera umfasst mit ihrer Hand ein kleines Kreuz an ihrem Hals und schließt die Augen.

Seit 1994 sitzt sie im Gefängnis, weil sie während der Massaker mit einem Gewehr gesehen wurde. „Es stimmt, dass ich eine Waffe besaß, aber ich habe sie nie benutzt“, sagt die Hutu-Frau mit leiser, fester Stimme: „Es war nur für meinen Schutz. Ich bin unschuldig. Meine Hoffnung liegt in Gacaca. Meine Nachbarn werden bestätigen, dass ich unschuldig bin. Dann komme ich frei. Ich habe keine Familie mehr, aber ich habe im Gefängnis ein Kind bekommen und werde hoffentlich bald mit ihm in meinem Dorf wohnen können.“

Der 38-jährige Alphonse Ntezilizaza wird nicht schnell freikommen. Er war 1994 Soldat, er ist geständig. Auch er ist froh, dass Gacaca endlich anfängt. „Das Wichtigste ist, dass wir einander die Wahrheit sagen“, meint er. Aber der Mann, auf dessen Gesicht nie ein Lächeln erscheint, hat auch Zweifel. „Es gibt in diesem Land nicht nur Hutu-Extremisten, sondern auch Tutsi-Extremisten. Ich hoffe, dass diese Leute Gacaca nicht missbrauchen. Wenn Gacaca vorbei ist, hoffe ich, dass eine allgemeine Amnestie verkündet wird.“