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: HELMUT HÖGE übers Nostalgieren

Die Agonie des Westens

Nur in Westberlins Mitte ist die Welt noch in Ordnung. Dahin fahren wir, wenn uns nach Nostalgieren zumute ist. Vor dem Theater des Westens stehen die Zuschauer und warten auf Einlass – in mittelalterlichen Kostümen.

Vor der Paris Bar verteilen Mädchen in verblassten Tutus Handzettel mit dem Hinweis, dass um 22 Uhr ein berühmter junger wilder Maler eine neue Flasche Wein bestellt und selbst öffnet – einen 1983er Place du Maurice –, wobei er laut verkündet: „Von hier aus wurde Westberlin an den Weltkunstmarkt angeschlossen!“ Und nun macht daneben ein Galerist und ein teurer Designerladen nach dem anderen dicht. Grade erschienen überall Nachrufe auf „Arno-Leuchten“.

Sogar der Großbuchhändler Kiepert klagt neuerdings. Der Avantgardedesigner Stiletto erklärt sich das Sterben seiner Lampenhändler ebenfalls nostalgisch: „Die haben nach der Wende nur noch defensiv reagiert – Lager abgebaut, Personal … und dann haben sie gleich beim Philip-Morris-Designkatalog, ihrer größten Konkurrenz, bestellt bzw. nur noch auf besonderen Kundenwunsch hin. Weil u. a. ich dabei einen Mindermengenzuschlag draufschlage, lassen sie sich damit ihren ganzen Gewinn wegfressen.“

Die Agonie des Westens erstreckt sich auf viele Branchen – und bei einigen steckt in der Defensive Haltung, z. B. beim Zwiebelfisch am Savingnyplatz, wo man eine lange kultivierte Atmosphäre verteidigt – zwischen Erbseneintopf, Raffael-Rheinsberg-Plakaten und Oskar-Huth-Fotos. Ähnlich ist es beim nahen Bioladen Sesammühle, dem ersten in Berlin. Dort ist der Nostalgietourist aus dem Osten bisher ausgeblieben, was Anlass zur Sorge gibt.

Überhaupt besteht ein Großteil der besonderen Westberlin-Atmo aus leisen Klagen. „Kaum hat man das Ku’damm-Karree attraktiv umgebaut, läuft es gar nicht mehr. Das Europa-Center wird man wohl abreißen müssen und die Schaubühne am Lehniner Platz lässt sich nur noch mit schwäbischem Boulevardtheater retten. Wer sich noch irgendwie bewegen konnte, hat rübergemacht – Frank vom Forum-Theater treibt sich z. B. in Prenzlauer Berg herum, und selbst der Ku’damm-HipHopper Ronny fühlt sich inzwischen zu den polnischen Versagern hingezogen – angeblich. Dafür bekommen die japanischen Touristen am Wittenbergplatz nun die größte Schweinshaxe der Welt vor die Nase gestellt, und im russischen Troika servieren die Kellnerinnen in ukrainischen Bauerntrachten die Pelmenis nach heißen Kasatschokrhythmen. „Man muss sich höllisch anpassen“, meint Claudia, die auf der Höhe Fasanenstraße anschaffen geht und früher einen zahmen Gepard besaß, aus dem sie sich dann einen Mantel machen ließ, den sie nachts gerne trägt – „Aber ich bin zu alt, um noch einmal wie diese jungen Dinger halbnackt auf der Oranienburger herumzuhopsen!“

Die Ost-West-Spaltung ist einem Generation-Gap gewichen. Überhaupt hat das Wort „Generation“ (X, Pepsi, Berlin, Golf) Hochkonjunktur. Es darf in diesen Restaurationszeiten niemanden verwundern, wenn erneut die „Klasse“ durch den faschistischen Kampfbegriff „junge Generation“ ersetzt wird. Und letztere buhlt vor allem im Osten der Stadt. „Sollen sie, sollen sie“, sagt der alte Emigrant Victor Safranowitsch am Bayerischen Platz, „so lässt man uns hier in Ruhe: neben den langsamen Wilmersdorfer Witwen und noch langsameren SA-Rentnern, die auch schon lange ausgekämpft haben.“ Es scheint tatsächlich so, dass die Landowsky-Clique so etwas wie das letzte Aufgebot des Westens war.

Und immer seltener hört man Witwen oben im Hunderter-Bus seufzen: „Was haben die nur aus unserem schönen Tiergarten gemacht?!“ Otto Schily will aber in Wilmersdorf bleiben, dazu muss er jetzt die Anteile seiner Mitbewohner kaufen, die sich alle irgendwie verändern wollen.

An der Baustelle Olympiastadion tragen seine Spezialeinsatzkräfte Freundschaftsspiele aus: das SEK Köln gegen das MEK Nürnberg und das LKA Berlin gegen den BGS Zoll Bielefeld. Anscheinend hatten die Anti-Bush-Proteste sie nicht ausgelastet, denn die Sanitäter und die Polizeiärztin bekamen beim Fußball mehr zu tun, als sie erwartet hatten.