Dr. Stoibers deutsche Diagnosen

In seiner Berliner Grundsatzrede verlangt Unions-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber gleichzeitig die deutsche Einheitskultur und erfrischenden Streit. Leistungsprinzip und Wettbewerb seien ebenso „verdrängt“ worden wie die demografische Entwicklung

von CHRISTIAN SEMLER

Wo Roman Herzog im April 1997 mit seiner „Es muss ein Ruck durch Deutschland gehen“-Rede anhub, da fuhr Edmund Stoiber gestern fort. Diesmal allerdings nicht im Berliner Hilton, sondern an traditionsschwangerer Stelle – im Französischen Dom am Gendarmenmarkt. Hatten nicht, so Stoiber, die hugenottischen Emigranten im Preußen des 17. Jahrhunderts für den großen Ruck gesorgt, der sich dann, nach der Niederlage gegen Napoleon, zu Beginn des 19. Jahrhunderts im zweiten Ruck der Reformbewegung fortsetzte?

Der Kanzlerkandidat diagnostizierte zunächst die Ursachen der deutschen Malaise. Hierzulande habe sich eine politische Kultur ausgebreitet, die er als „Konsens der Verdrängung“ charakterisierte. Verdrängt würden vor allem drei Herausforderungen. Erstens die demografische Entwicklung, zweitens das Leistungsprinzip und drittens der Wettbewerb als Lebenselixier.

Zur Alterspyramide wiederholte Stoiber die Lektionen Biedenkopfs, es fehlte auch nicht die Verbeugung vor der Leistungsfähigkeit der Alten, von der man auch nach dem 65sten Lebensjahrs profitieren sollte. Nach einem Schlenker gegen den Konsens des Schuldenmachens auf Kosten der nächsten Generation folgte Heftiges gegen die Immigration als Lösung unserer Altersprobleme.

Die multikulturelle Einwanderergesellschaft charakterisierte Stoiber als beziehungsloses Nebeneinander. Integrationsleistungen müssen vor allem die Ausländer erbringen: Sie müsssen kulturelle Wurzeln schlagen, den deutschen Nachbarn verstehen und Pflichten für die neue Heimat übernehmen. Kein Wort über notwendige Anstrengungen seitens der deutschen Gesellschaft. Der Kandidat fürchtet angesichts der Immigration um den sozialen Zusammenhalt und die kulturelle Stabilität. Unter Kulturnation versteht er den zuverlässig sprudelnden Born der Werte. Für ihn hat die Kultur nichts Vielsprachig-Chaotisch-Innovatives. Sie ist zuhanden und sie ist deutsch.

Hinsichtlich der Leistung als Prinzip sang Stoiber das Hohe Lied der Eliten, die allzu lang von Rechts- wie Linksextremen diffamiert worden seien. Bildung, auch Schulbildung sei der Lohn der Anstrengung. Und zur Bildung gehört auch Erziehung, Vermittlung des Wertekanons, Disziplin und Selbstdisziplin. Was aber ist das Bildungsziel? Verantwortung, Pflichtbewusstsein, Leistung. Wilhelm von Humboldt, der preußische Reformer, hat das etwas anders gesehen. Er hatte noch solche Flausen wie Autonomie und Selbstverwirklichung im Kopf.

Wettbewerb als drittes Postulat muss nach Stoiber fair und regelkonform sein. In der sozialen Marktwirtschaft gewinne er eine soziale Dimension. Wettbewerb sei nicht nur Standortwettbewerb in der Ökonomie, auch die Hochschulen und die Bundesländer müssten sich in dieser edlen Disziplin üben. Über seine Haltung zum wettbewerbsvernichtenden wirtschaftlichen Konzentrationsprozess ließ Stoiber seine Hörer im Unklaren.

Wie der Falle des „Konsenses der Verdrängung“ entkommen? Der Kandidat umschrieb eine Triade. Vom Aufbruchskonsens der Nachkriegszeit über die Ablehnung des Konsenses der Verdrängung zu einem neuen Konsens des Aufbruchs und der Dynamik. Um diesen neuen Konsens zu erklimmen, bedürfe es des Streits, der Absage an falsches Harmoniestreben. Weg vom kleinsten, gemeinsamen Nenner, weg von den geistigen Selbstblockaden und eben – weg vom Konsens um jeden Preis.

Stoibers Bekenntnis zum politischen Streit war erfrischend, auch weil er erfreulicherweise einfach vom Streit und nicht – sogleich den Streit neutralisierend – von „Streitkultur“ sprach. Seine Analyse der Kräfte, die sich streiten sollen, blieb allerdings so unklar wie seine Kennzeichnung möglicher, rivalisierender Zielsetzungen. Wahrscheinlich sieht er es so, dass er, der aufwärts denkende Dynamiker, im Streit liegt mit den rückwärts gewandten Auf-der-Stelle-Tretern. Womit der Streit schon entschieden wäre, bevor er begonnen hat.