„Wir kennen unsere Banditen“


Staatlich legitimierte Wegelagerer machen der Zivilbevölkerung das Leben zur Hölle

aus Alchan-Kala KLAUS-HELGE DONATH

Punkt Viertel vor elf zerreißt ein Donnern die Stille. Die Erde bebt, Scheiben klirren, jeden Abend um die gleiche Zeit. Russische Soldaten erledigen ihr Tagessoll, zwei Schüsse pro Minute im Schnitt. 20, 25 Kilometer entfernt, irgendwo in den Bergen schlagen die Geschosse ein. Wo, das ist Nebensache. Viel wichtiger ist die Schussdichte: Je intensiver, desto höher die Zulage. Buchhaltung entscheidet über Krieg oder Frieden in der abtrünnigen Kaukasus-Republik.

An diesem Abend bleibt es verdächtig ruhig. Erst gegen ein Uhr nachts setzt schwerer Schusswechsel ein. Tschetschenische Rebellen beschießen die russische Kommandatur in Atschkoi Martan mit Granatwerfern und MG-Salven. Nach zwei Stunden ist der Spuk vorbei. Die Rebellen ziehen feixend ab, aufrechten Ganges und ohne Deckung. Kein russischer Posten nimmt ihre Verfolgung auf. Dabei stehen nach Angaben unabhängiger Beobachter zurzeit noch 200.000 Mann in der Kaukasus-Republik.

Das Gefecht dieser Nacht verläuft glimpflich, nur Sachschaden entsteht: Atschkois zentrale Gasleitung geht in Flammen auf. Anfang Juni waren Rebellen an verschiedenen Orten gegen russische Stellungen vorgegangen. Hinter diesen Angriffen verbirgt sich keine groß angelegte Offensive. Denn Hoffnungen, das Kriegsglück noch zu wenden, hegen die Freischärler längst nicht mehr – die Überlegenheit des Gegners und mangelnder Rückhalt der Aufständischen in der tschetschenischen Bevölkerung verbieten dies.

In derselben Nacht wird auch der provisorische Sitz der Verwaltung in Schatoi überfallen. 40 Rebellen liefern sich mit tschetschenischen Polizisten eine zweistündige Schlacht. Auf Munition und Waffen sollen sie es abgesehen haben. Das russische Stabsquartier liegt nur einige hundert Meter entfernt, dennoch schicken die Militärs erst eine halbe Stunde nach Abzug der Rebellen Hilfe. 6.000 Soldaten kommen auf 13.500 Einwohner in der Region. Auch hier nimmt niemand die Verfolgung der Freischärler auf. „Das hat System“, meint Landrat Said Dusujew, „die Banditen und der militärische Geheimdienst (GRU) sind Waffenbrüder.“

Banditen nennt Dusujew die Freischärler, auf die er ähnlich schlecht zu sprechen ist wie die prorussische Regierung in Grosny und Moskaus Militärs auf ihn, den unbequemen Landrat. Dusujew nimmt kein Blatt vor den Mund – demonstrativ stellt er Furchtlosigkeit zur Schau. Er ist einer von zwei Landräten in dem von russischen Truppen besetzten Tschetschenien, die sich überhaupt auf ein Mandat der Bevölkerung stützen können. Er verzichtet auf Leibwächter und trägt keine Waffe.

Trotz erheblicher Vorbehalte hat Said Dusujew mit den Militärs eine Regelung gefunden. Dieser seiner Politik sei es zu verdanken, dass es seit Kriegsausbruch vor drei Jahren keine Hausdurchsuchungen der Militärs mehr gegeben habe, bei denen verdächtige Zivilisten gefoltert, ermordet und entführt werden. Die Hochgebirgsregion Schatoi liegt in der Nähe der georgischen Grenze. Seit die Freischärler vor der russischen Armee aus Tschetscheniens Hauptstadt Grosny fliehen mussten, operieren sie von den Bergen aus. Sollte die russische Armee im Herbst, wie angekündigt, abziehen, würden die Bewohner der Bergregion „den Kriminellen einfach ausgeliefert“.

Dusujew ist überzeugt, dass die russische Regierung kein Interesse an Frieden und Ordnung in Tschetschenien hat. Misstrauisch verfolge der Militärstab in Alchan-Kala daher jede pragmatische Politik, die versucht, den Rebellen in den Bergen den Boden zu entziehen. Es sei wohl kein Zufall, wenn ehemalige Freischärler plötzlich die Uniform der moskautreuen tschetschenischen Polizei tragen. In Schatoi werden Bewerber indes auf Herz und Nieren geprüft: „Wir kennen unsere Banditen“, so Dusujew.

Dusujew regiert in einem notdürftig hergerichteten Verwaltungsgebäude mit dem einzigen Telefon für 13.500 Einwohner. Gerade mal zwei Schreibtische haben in seinem Büro Platz. 28 Millionen Rubel, (ca. 1 Million Euro) sind im Wiederaufbauplan des Kreml für Schatoi vorgesehen. Keine Kopeke ist bisher eingetroffen, abgeschrieben worden sei aber die ganze Summe, meint Dusujew. In Moskau klapperte er die Ministerien ab, nicht etwa weil er hoffte, das Geld noch aufzutreiben, sondern um den Betrug aktenkundig zu machen. „Für den Rückflug habe ich eine andere Route genommen und das Ticket erst im letzten Moment gekauft“, sagt er. „Dem Geheimdienst ist alles zuzutrauen.“

Von Schatoi ins 60 Kilometer entfernte Grosny ist es eine Tagestour. Die Brücke über den Argun ist seit zwei Jahren gesprengt, 30.000 US-Dollar würde eine neue kosten. Für die Hauptverbindungsstraße zwischen Ebene und Bergregion ist aber im tschetschenischen Budget kein Posten vorgesehen. So wird der Pkw auf einen Laster verladen und durch den reißenden Argun jongliert. Die Route über Duba Jurt ist gesperrt, seit die Armee dort Säuberungen durchführt.

Trotz der Beteuerungen des Kreml findet in Tschetschenien kein Wiederaufbau statt. Nach wie vor ist Grosny wohl der Welt größter Schutthaufen. Nichts hat sich seit dem Einmarsch der russischen „Ordnungshüter“ im Herbst 1999 verändert. Die Menschen hausen in Ruinen. Wer einen Schritt neben den Weg zum Unterschlupf setzt, läuft Gefahr, auf eine Mine zu treten. Vor allem jugendliche Minenopfer liegen im zentralen Krankenhaus Nummer 9 in Grosny.

Auf- und abgeräumt wird scheinbar nur dort, wo korrupte Bürokraten Trümmer als Baumaterial an Privatleute verhökern. Grosnys Krankenhaus Nummer 9 befindet sich immer noch im gleichen erbärmlichen Zustand wie unmittelbar nach dem Ende der Kampfhandlungen im Frühjahr 2000. Nur zwei Etagen des fünfstöckigen Gebäudes sind nutzbar, meint Chefarzt Abdullah Ismail. Immerhin stellte das russische Gesundheitsministerium im letzten Jahr zwei Krankenwagen und einige Computer zur Verfügung – für eine Stadt, in der nach offiziellen Angaben wieder knapp 200.000 Einwohner leben. Überdies fehlen Fachärzte, kaum ein ehemaliger Mitarbeiter kehrte zurück; die Lebensbedingungen in der Ruinenlandschaft und die Willkür der russischen Militärs verhindern das.

Es sei kein Zufall, wenn ehemalige Freischärler plötzlich Polizeiuniform tragen

Die Ausstattung der Krankenzimmer gleicht einem Sperrmülldepot. Das propagandageschulte Moskau hält es nicht einmal für nötig, das wichtigste Krankenhaus der Republik als Vorzeigeobjekt herzurichten. Die Botschaft ist eindeutig: Der Kreml will an der Lage im Kaukasus nichts ändern und sorgt sich mittlerweile nicht mal mehr um seinen Ruf im Ausland.

Das einzige schmucke Gebäude der Stadt gehört der Elektrizitätsgesellschaft Nurenergo. 90 Prozent der tschetschenischen Ortschaften haben die E-Werker inzwischen wieder ans Netz gelegt. „Hundert Prozent schaffen wir nie“, meint ein führender Mitarbeiter. Denn Buntmetalle sind nach wie vor begehrt, und deren rapider Schwund geht meist auf das Konto der Armee. Aus Langeweile oder in Trunkenheit zerschießen Soldaten die Leitungen. Wieder nüchtern geworden, verkaufen sie das Metall weiter. Illegaler Handel mit allem, was nicht niet- und nagelfest ist, gedeiht weiterhin vortrefflich. Die wilden Ölquellen haben lokale moskautreue Machthaber und Militärs unter sich aufgeteilt. Früher finanzierten die Rebellen damit den Widerstand. Mussa, der bis vor kurzem einen Tankwagen fuhr, erzählt, wie er nachts unbehelligt Straßenkontrollen passiert und auf der russischen Seite der Grenze vom Geheimdienst erwartet und zur Raffinerie im Gebiet Stawropol eskortiert wird.

An den Straßensperren in Tschetschenien stehen unterdessen staatlich legitimierte Wegelagerer. Sie machen der Zivilbevölkerung das Leben zur Hölle. Wer keinen Wegezoll entrichtet, muss damit rechnen, auf der Stelle verhaftet zu werden.

Die Kontrollposten belegen indes die wechselseitige Durchdringung der kaukasischen und russischen Kultur. Alles ist käuflich. Einziger Unterschied: Die Kaukasier achten auf ein Preis-Leistungs-Verhältnis, die Russen lassen sich vom Nachdurst treiben. Die Maut richtet sich nach Ziel und Ladung, selbst Munition und Patronen sind heiß begehrt.

Fast ein Jahrzehnt befindet sich Tschetschenien im Kriegszustand. Die Brutalität der Besatzungsmacht hat alle Normen außer Kraft gesetzt. Die Grenzen zwischen Kollaborateuren und engagierten Pragmatikern sind fließend. Nur eines beherrscht Tschetschenien: der Zynismus. „Je häufiger die politisch Verantwortlichen wechseln“, so ein Polizeichef, „desto besser für uns.“