Disziplinierung der Sorgenkinder

Für chronisch Erkrankte können die Krankenkassen ab 1. Juli neuartige Behandlungsprogramme anmelden. Die Ärzte bleiben kritisch

von ULRIKE WINKELMANN

Wenn die Zuckerkranke mit akutem Nierenversagen ins Krankenhaus eingeliefert wird oder ihr die Füße amputiert werden müssen, funktioniert das deutsche Gesundheitssystem prompt und gut. Warum aber musste es erst so weit kommen? Wer hat die Patientin falsch und oberflächlich betreut, warum hat niemand ihren faulenden Fuß bemerkt und behandelt?

Der „diabetische Fuß“ gilt als typischer „Folgeschaden“ der Zuckerkrankheit, er entsteht durch die Schädigung der Blutgefäße und Durchblutungsstörungen. 20 bis 30 Prozent aller Diabetiker leiden daran. In der Schweiz, dies belegt eine von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) und den großen Krankenkassen gern zitierte Studie, konnte die Rate der Fußamputationen bei Diabetikern um 87 Prozent gesenkt werden – dank einer koordinierten Therapie, die auf Neu-Europäisch Disease Management Programm (DMP; disease: Krankheit) heißt.

Sinn, Kosten, Konzept

Unbeholfen übersetzt mit „strukturiertes Behandlungsprogramm“, sollen DMPs die Behandlung chronisch Kranker auf medizinisch höchstem Niveau und mit motivierten Patienten erreichen. Die Idee stammt aus den USA, umgesetzt wurde sie bereits in verschiedenen europäischen Staaten, in Deutschland läuft etwa in Baden-Württemberg ein kleines Pilotprojekt.

Nach monatelanger Debatte um Sinn, Kosten und Konzept sollen in Deutschland die Krankenkassen nun ab dem 1. Juli die Möglichkeit haben, solche Programme in großem Stil aufzulegen. Mit dem In-Kraft-Treten der „Risikostrukturausgleichsverordnung“ (siehe Kasten) können die Kassen beim Bundesversicherungsamt ihre Pläne einreichen und, sobald die Zertifizierung vorliegt, mit den Ärzten in Verhandlungen treten.

Die ersten DMPs wurden für zwei der großen „Volkskrankheiten“ entwickelt: Diabetes mellitus Typ-2, also der „Alterszucker“, und Brustkrebs. Zwei weitere sind in Arbeit: Asthma und koronare Herzerkrankungen, gerne als „Herz-Kreislauf-Geschichten“ bezeichnet. Als weitere mögliche DMP-Kandidaten werden Rückenleiden und Depression diskutiert. Wann die ersten Zucker- und Brustkrebspatienten sich einschreiben können, ist freilich noch unklar. Vom Herbst dieses Jahres ist bei den großen Kassen DAK und AOK die Rede, „spätestens Frühjahr 2003“.

Es handelt sich bei den Programmen um eine Art Disziplinierung. Erstens sollen sich die Ärzte an die Regeln halten, zweitens die Patienten. Und wenn man schon einmal so eine Großaktion startet, formuliert man am besten auch die Regeln noch einmal neu: „Leitlinien“ heißen die medizinischen Vorgaben, auf die sich Kassen und Ärzte mühsam einigen konnten. Mit DMPs wird, so nennt es einer der vielen euphorisierten Sprecher der großen Krankenkassen, „eine andere Art von Medizin, ein Switch in der Behandlungskultur“ erreicht: „Weg von der bloßen Krisenintervention, hin zu einer kontinuierlichen Betreuung der Chroniker.“

Chronische Patienten, muss man wissen, sind die Sorgenkinder des deutschen Gesundheitssystems. Sie machen etwa 20 Prozent der Versicherten aus, verursachen aber 80 Prozent der Kosten. Das vernichtende Urteil, das der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen vergangenes Jahr über die deutsche Medizin sprach: „Über-, Unter-, Fehlversorgung“, bezieht sich vor allem auf die Chroniker.

Und so muss man sich das vorstellen: Disease Manager soll nunmehr der Hausarzt werden. Er wird, wenn er sich mit der Kasse darüber geeinigt hat, dass er DMPs sinnvoll findet und anwenden möchte, mit seinen Patienten besprechen, ob sie für ein DMP geeignet sind. Die Teilnahme ist freiwillig. Gemäß einem Behandlungsplan wird der Patient dann unter Umständen an Kursen zur Ernährung, Gewichtskontrolle und Gesundheitsvorsorge teilnehmen, wird der Arzt mit ihm den Besuch anderer Experten besprechen und wird die Kasse über die Einhaltung von Terminen und Vorgaben wachen.

„Wie geht es Ihnen?“

Dazu muss die Patientin motiviert werden. Dass es dazu mehr als bloß eines Arzttermins bedarf, ist den Kassen längst klar. Und weil sie selbst schon lange nicht mehr mit ihren Versicherten reden können, beauftragen sie so genannte Gesundheitsdienstleister, die nun für die Kassen darüber nachdenken, wie man nachlässigen Patienten auf die Sprünge helfen kann: Täglich anrufen? „Wie geht es Ihnen? Haben sie an ihren Diätkurs heute Abend gedacht?“

Der Vormarsch der Gesundheitsdienstleister in den Markt der Chronikerbetreuung, und überhaupt: dass die Kassen neuerdings Therapien entwerfen, hat die Ärzte längst auf die Palme gebracht. Wortreich war etwa die Kritik von Friedrich-Wilhelm Kolkmann, Chef der Landesärztekammer Baden-Württemberg, auf dem Ärztetag jüngst in Rostock: „Kümmelblättchen, Bauernfängerei, falsches Spiel“, tobte er stellvertretend für viele Ärzte, die für sich reklamieren, dass die Betreuung von Chronikern nichts zu wünschen übrig lasse.

Für Empörung sorgt überdies sowohl bei Ärzten als auch bei den kleineren Kassen, dass Ulla Schmidt aus Wahlkampfgründen enormen zeitlichen Druck auf die Entwicklung der DMPs ausgeübt hat. Auf „Tag- und Nachtsitzungen im Schweinsgalopp“ habe man sich auf die Leitlinien für die Behandlung verständigen müssen, sagt der Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Roland Stahl. Für die nächsten DMPs für Asthma und koronare Herzkrankheiten, erklärt Stahl, „werden wir uns mit Sicherheit nicht so unter Druck setzen lassen“.