Survival in Meck-Pomm

Ein Gärtner und ein Koch: Sie kamen in die vorpommersche Pampa, um Wildkräuter zu kultivieren. Heute versorgen sie Deutschland, seit neuestem auch Österreich mit aromatischem Grünzeug de luxe

von EBERHARD SCHÄFER

Vor einiger Zeit wanderte der Survivalkünstler Rüdiger Nehberg monatelang durch Deutschland. Ohne einen Pfennig in der Tasche. Er ernährte sich von Wurzeln und Regenwürmern, aß Feld-, Wald- und Wiesenkräuter – und litt keinen Hunger. Wenn Nehberg wieder einmal auf Tour geht, sollte er in Boltenhagen vorbeigehen. Die Kräuter, die hier wachsen, würden zum Sattwerden reichen.

Für die Vogelmiere ist im Moment Erntezeit. Nehberg wäre entzückt: Kaut man das struppige Kraut gut durch, entfaltet sich ein Aroma, das an zarten, jungen Mais erinnert. Oder Borretsch: Man wähnt sich am Meer.

Vogelmiere und Borretsch, Taubnessel und Magentamelde – die schmeckt nach Spargel – sprießen auf dem kaum drei Hektar großen Stück Land von Olaf Schnelle und Ralf Hiener. Die beiden agilen Mittdreißiger kultivieren Wildkräuter, ernten und verschicken sie per Express an die Kundschaft im ganzen Land, sogar bis nach Österreich. 250 Restaurants bestellen regelmäßig, darunter besternte Etablissements wie das „Margaux“ in Berlin oder das „Louis C. Jacob“ an Hamburgs Elbchaussee.

„Essbare Landschaften“ haben die beiden Männer ihre Firma genannt. Die Geschäftsidee ist einfach: Je nach Saison werden frische Kräuter, die kaum jemand – zumal in der stets hektisch arbeitenden Gastronomie – freiwillig suchen mag, geschweige denn finden würde, tagfrisch geerntet und ausgeliefert.

Der Deal funktioniert so: Die Kunden bestellen bis spätestens 22 Uhr. Am nächsten Morgen stehen Schnelle, Hiener und ihre acht Mitarbeiter in aller Frühe auf, um die georderten Mengen frisch zu pflücken. Bis zehn Uhr müssen alle Aufträge im Sack sein. Sortiert, gewaschen, in Plastikbeutel und schließlich in Pappkartons verpackt, werden sie mittags von German Parcel abgeholt und in höchstens 48 Stunden, meist aber noch am selben Tag ausgeliefert. Das Geschäft flutscht. Etwa fünfzehn Kilogramm Grünzeug gehen täglich auf die Reise. Allein zwei Tonnen (!) Bärlauch fuhren in diesem Frühjahr von Boltenhagen durch die Republik.

Seit kurzem arbeiten sie gar mit einem österreichischen Gastroservice zusammen, der Restaurants in der Alpenrepublik mit duftendem Nachschub versorgt. Billig ist das Grünfutter nicht: Für fünfzig Gramm Kräuter, als Gemisch oder sortenrein, berechnet das schnelle Duo drei Euro und fünf Cent. Fünfzig Gramm ergeben zwei ordentliche Portionen Salat. Der Mindestbestellwert beträgt allerdings 25 Euro.

Für Privatkunden gibt es Abonnements: Wöchentlich kommt ein kleiner Karton mit zweihundert Gramm Kräutern zum Preis von 15,50 Euro ins Haus. Im Päckchen steckt außerdem eine Schale mit Blüten, etwa von Glockenblumen oder Lavendel, mit denen man den Wildkräutersalat garnieren kann. Essbar sind die Blüten natürlich auch. Gift ist ohnehin nirgends dabei – die Essbaren Landschaften haben allesamt Biolandqualität.

Die meisten Besteller wollen eine Kräutermischung, die fix und fertig für den Salatteller vorbereitet ist. Man muss dann nichts mehr tun, als die Grünlinge direkt aus der Tüte auf den Salatteller zu schütten. Eine milde Vinaigrette genügt – fertig ist die Aha-Vorspeise. In diesen Tagen kommen etwa Taubnesseln und Salbei, Giersch und Scharbockskraut, Gelbsenf und Hirschhornwegerich ins Paket. Wer mag, trinkt ein mit Waldmeisterlikör angereichertes Glas Sekt dazu. Denn die meisten trockenen Weine werden vom Kräuteraroma glatt erschlagen.

Immer mehr Küchenchefs nutzen die Kräuter für ihre Kochkünste. Michel Hoffmann etwa, Chef im Berliner „Margaux“, entzückt sein Publikum mit einem Kartoffeleierstich mit Taubnesseln, Gundermann und Spitzwegerich aus Boltenhagen. In Bälde beginnt dann die Basilikumsaison – nicht weniger als zwölf Sorten kann man bei Hiener & Schnelle ordern. Aber nur wenn die Saat aufgeht, denn das ist nicht sicher und somit Berufsrisiko der beiden. Was auf dem Ackerland nicht wachsen will, wird auf der nahen Streuobstwiese gepflückt. Auf besonderen Wunsch fährt Olaf Schnelle auch mal in den feuchten Wald, wo nur er die Stelle kennt, an der die beste Brunnenkresse wächst.

Olaf Schnelle, ausgebildeter Gärtner, war Initiator des Aromaunternehmens. „Als Gärtner lernt man alles darüber, wie Unkräuter bekämpft werden“, meint der gebürtige Thüringer mit dem schwarzen Meckischnitt, „aber wie man Kräuter kultiviert, das ist gärtnerisch gesehen völliges Neuland.“ 1998 nahm er die Herausforderung an: Er ging von Berlin in die vorpommersche Pampa. Die Gemeinde hatte ihm das leer stehende Gutshaus, ein paar Hektar Land und eine ungenutze Obstwiese, auf der die scheinbar nutzlosen Kräuter nur so sprossen, zur Pacht angeboten. Er suchte einen Partner und fand ihn in dem Koch Ralf Hiener. Den hatte es aus dem Südschwarzwald in ein Restaurant auf dem Darß, der sandigen Halbinsel in der vorpommerschen Ostsee, verschlagen. Hiener ist der typische rastlose Gastronom, immer auf der Suche nach neuen Kreationen. Kein Wunder, dass sein Haar trotz seiner 36 Jahre ergraut ist.

In der Kommandozentrale der Essbaren Landschaften im Gutshaus zu Boltenhagen, von dem der Putz abbröckelt, sieht es aus wie in einer Landkommune, gemischt mit New-Economy-Ingredienzen. Aktenordner stehen in Ivar-Regalen, Geschäftsbesprechungen finden auf Klappstühlen und in Sperrmüllsesseln statt, Papiermassen quellen aus dem Fax, Monitore flimmern.

Das Ossi-Wessi-Duo ist in Vorpommern zu einem echten Arbeitgeber geworden: Mittlerweile gibt es acht Mitarbeiter, die das Grünzeug ernten, waschen, sortieren und verpacken. Dazu kommen sechs Teilzeitkräfte, die sich um die Gartenpflege kümmern.

Hiener und Schnelle wollen nicht nur die regionale Konjunktur ankurbeln, sondern auch Entwicklungshilfe in Sachen kulinarischer Kultur leisten. Die Landwirtschaft Mecklenburg-Vorpommerns, beklagt Ralf Hiener, wird heute agroindustriell beherrscht. Riesenbauernhöfe von tausend Hektar beackern mit zwei Traktoren Monokulturen aus Weizen oder Raps, „eine Agrarwüste!“. „Aber in welcher anderen Region“, fragt Hiener, „gibt es gleichzeitig auf so kleinem Raum eine solche kulinarische Vielfalt?“

Hiener zählt auf: Salzwasserfische aus der Ostsee, Süßwasserfische aus dem Bodden, Krebse aus den mecklenburgischen Seen. Dazu kommen alte, fast vergessene Obst- und Gemüsesorten. „Auf den Streuobstwiesen und in den Gärten schlummern kleine, feine Schätze. Die wollen wir heben.“ Anfang September etwa werden sie sich am Gastrofestival „LePomm“ im Barockschloss Griebenow beteiligen. Hiener: „Zwölf Spitzenköche kommen!“

Trotz aller Erfolge reichen die Erträge aus dem Kräuterversand aber noch nicht aus, um den beiden Protagonisten ein ganzjähriges Auskommen zu gewährleisten. Zwischen November und März ruht auch in Meck-Pomm die Vegetation – keine Kräuter, kein Geld. Aber ein künstlich beheiztes Treibhaus wird es bei ihnen niemals geben.

So geht Ralf Hiener in den Wintermonaten lieber auswärts arbeiten – an Gastronomieschulen bildet er Köche aus. Von Kräutern allein satt werden ist eben doch nicht so leicht. Außerdem will man ja auch mal ein Stück Fleisch. Und lieber nicht vom Regenwurm.

EBERHARD SCHÄFER, 40, Politologe, leitet die Berliner Männerberatungsstelle „Mannege“. Weitere Infos zu Kräutern aus Mecklenburg-Vorpommern: www.EssbareLandschaften.de