Geraderücken eines schiefen Turms

Bayern hat gewonnen, Bremen verloren, Hamburg ist mittelmäßig: Was man über PISA wissen muss, aber nur erfährt, wenn man die 250 Seiten wirklich liest: Dass beispielsweise nicht Bildungspolitik bildet, sondern die soziale Lage

von SANDRA WILSDORF

Es ist Wahlkampf in Deutschland, keine Zeit für differenzierte Betrachtungen. Und deshalb sind die vermeintlichen Sieger der nationalen Ergänzungsstudie von PISA gleich aufs Siegertreppchen geklettert. Dabei gibt es zur Freude wenig Anlass. Denn der Vergleich der Bundesländer bestätigt nur das traurige Ergebnis der internationalen Vergleichsstudie: Deutsche Schulen schaffen es nicht, die sozialen Unterschiede, die Kinder mit in die Schule bringen, auszugleichen. Deshalb ist leider völlig logisch, dass Bayern besser abschneidet als beispielsweise Bremen und Hamburg.

Der Befund: In Hamburg haben nur die Gymnasiasten in ausreichender Zahl an der Studie teilgenommen, weshalb nur diese in dem nationalen Vergleich vorkommen. Ihr Befund bei der Lesekompetenz: Mittelmaß. Und: in Hamburg und Bremen sind die Leistungsabstände zwischen den Besten und den Schlechtesten am größten.

In Mathematik sind die Hamburger noch weniger als durchschnittlich, noch schlechter sind nur noch Brandenburg und Bremen – am besten sind auch hier wieder die Bayern, auf Platz zwei liegt aber Schleswig-Holstein. Zwar attestieren die PISA-Forscher Hamburg eine besonders leistungsstarke Mathematik-Spitze. Doch das insgesamt nur mäßige Ergebnis entsteht, weil, „mit zunehmender Expansion des Gymnasiums die Schwierigkeiten steigen, in der unteren Leistungsgruppe für das Gymnasium angemessenes Leistungsniveau zu sichern“. Die offensichtlichsten Probleme, ausreichende Mindesstandards zu definieren, haben Hamburg und Bremen. Das, so die Studie, sei kein Problem der Selektion, „sondern eines der Förderung und des professionellen Umgangs mit Leistungsheterogenität im Unterricht“. In den Naturwissenschaften liegen Schleswig-Holsteins Gymnasiasten auf Platz eins vor Baden-Württemberg und Bayern. Hamburg liegt etwas unter dem Durchschnitt auf dem viertletzten Platz. Auch in dieser Disziplin ist die Streuung der Leistung besonders hoch: Fast ein Fünftel der Hamburger Gymnasiasten ist schlechter als durchschnittliche Neuntklässler über alle Schulformen betrachtet.

„Ist ja klar“, will man da entgegnen: In Hamburg gehen ja auch viel mehr Schüler auf das Gymnasium: Nämlich 32,5 Prozent eines Jahrgangs und damit deutlich mehr als die bayerischen 27,6 Prozent. In Bayern machen am Ende denn auch nur knapp 20 Prozent eines Jahrgangs das Abitur, in Hamburg sind es über 30 Prozent. Klar, je mehr Selektion, desto besser ist die oberste Gruppe. Doch so leicht ist es nicht: In Bayern sind auch alle anderen Schüler besser als in anderen Bundesländern, auch die Migranten. In den Naturwissenschaften erreichen die sogar ähnliche Ergebnisse wie die Neuntklässler aus deutschen Elternhäusern in Sachsen-Anhalt und Brandenburg. Auch die Streuung zwischen den Leistungen ist in Bayern in allen Bereichen geringer als in Bremen, und – wo es ausgewertet wurde – auch in Hamburg. Gelingt es in Bayern besser, die Benachteiligten zu fördern? Oder gibt es dort einfach weniger Benachteiligte? Und entscheiden nicht Konzepte über Bildung, sondern die soziale Lage?

Dafür spricht einiges: Bayern, Baden-Württemberg und Hessen liegen in Sachen Wirtschaftskraft an der Spitze aller Bundesländer. Zwar haben die Stadtstaaten Hamburg und Bremen ein noch höheres Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner, sind aber hoch verschuldet. Die südlichen Flächenländer haben außerdem mit etwa sechs Prozent die geringsten Arbeitslosenquoten. Dafür geben Hamburg, Bremen und auch Berlin pro Einwohner dreimal so viel Geld für Sozialhilfe aus wie Bayern und Baden-Württemberg.

PISA hat herausgefunden, dass es in Deutschland nicht gelingt, Jugendliche mit Migrationshintergrund bildungsmäßig optimal zu integrieren. In allen Ländern finden sich mindestens doppelt so viele Schüler mit Migrationshintergrund in der Gruppe der Risikoschüler wie bei den Schülern mit in Deutschland geborenen Eltern. Diese Jugendlichen haben erhebliche Schwierigkeiten,

selbst einfachste Texte zu verstehen

und würden bei den Aufnahmeprüfungen für einen Lehrberuf scheitern. Mit sechs Prozent ist die Zahl der Risikoschüler in Bayern am geringsten. Und die mittlere Leistung der bayrischen Schüler mit Migrationshintergrund entspricht dem Bundesdurchschnitt der Gesamtgruppe der Neuntklässler. Allerdings: In Hamburg haben 38,5, in Bremen sogar 40,7 Prozent der 15-Jährigen mindestens ein Elternteil, das nicht in Deutschland geboren ist. In Bayern sind das nur 22,4, in Baden-Württemberg 28,8 Prozent. Und der Anteil der Schüler, die ihre Schullaufbahn ohne Hauptschulabschluss beenden, liegt in Bayern mit 23 Prozent dreimal so hoch wie bei ihren deutschen Mitschülern. In Hamburg gehen 18,2 Prozent der Jugendlichen mit Migrationsgeschichte ohne Hauptschulabschluss ab, bei den Deutschen sind es 10,6 Prozent.

Die rot-grüne Regierung hatte es stets stolz betont, und Bildungssenator Rudolf Lange wundert sich jetzt darüber, dass die Ausgaben für die Schüler in Hamburg zwar besonders hoch sind, nicht aber die Ergebnisse im Ländervergleich. Das kommt so: Hamburg gibt zwar mit 12.400 Mark pro Jahr am meisten pro Schüler aus, gemessen am Bruttoinlansprodukt ist das jedoch weitaus weniger als beispielsweise die östlichen Bundesländer aufwenden. Thüringen beispielsweise gibt pro Schüler 9200 Mark aus und kommt auf die hervorragende Schüler-Lehrer-Relation von 14,4 an Grundschulen und 16,2 an Gymnasien. Auch die Schüler-Lehrer-Relation Hamburgs liegt in der Spitzengruppe. Trotzdem hatte ein Neuntklässler in Bayern und Thüringen bereits etwa 1000 Stunden mehr Unterricht als in Hamburg. Von den höheren Ausgaben pro Schüler profitieren nämlich in erster Linie die Lehrer: In Hamburg und Bremen steigen die Pädagogen eine Gehaltsgruppe höher ein als in anderen Ländern. Auch erfordert die andere Schülerstruktur zusätzliche pädagogische Maßnahmen, die in die Gesamtkosten eingehen wie Deutschförderung für den höheren Anteil an Migranten.

Chancengleichheit: Ein Kind von Eltern aus der obersten sozialen Schicht hat in Bayern eine 10,5 Mal höhere Chance auf einen

Gymnasialbesuch als ein Kind aus einer Facharbeiterfamilie. In Großstädten ist die soziale Schicht noch entscheidender. Das gilt allerdings nicht für die Stadtstaaten: Bremen bildet eine rühmliche Ausnahme, für Hamburg liegen keine Daten vor. Die geringsten sozial bedingten Unterschiede bei der Chance auf ein Abitur finden sich in den neuen Bundesländern. Übrigens gilt dieses soziale Gefälle nicht für Jugendliche mit Migrationsgeschichte. Beherrschen sie die deutsche Sprache, sind ihre Chancen auf ein Abitur wesentlich weniger schichtabhängig als bei ihren deutschen Mitschülern. Das hat für Hamburg schon die LAU-Untersuchung ergeben.

Während bei Mathematik und Naturwissenschaften die Schule eine Art Lehrmonopol hat, wird bei der Lesekompetenz deutlich, wie wichtig die soziale Herkunft für schulischen Erfolg ist: Damit in engem Zusammenhang steht auch der Erfolgsfaktor Spaß: Im OECD-Durchschnitt gaben 32 Prozent der Schüler an, nicht zum Vergnügen zu lesen, in Deutschland zehn Prozent mehr. In Bayern und Baden-Württemberg, aber auch in Großstädten sind es etwa so viele wie im OECD-Schnitt.

Die PISA-Ergebnisse sind insofern für alle Bundesländer ein trauriger Beleg dafür, dass Deutschland bildungspolitisch auf dem Holzweg ist. Denn natürlich ist es kein Zufall, dass PISA-Platzierung und soziale Lage korrelieren. Und noch etwas zeigen die guten Ergebnisse Bayerns: Seit langem ist bekannt, dass heterogene Lerngruppen besser lernen als homogene Gruppen. Doch nirgendwo wird so viel, früh und gründlich aussortiert, wie in Deutschland. In Bayern ist zwar das Gymnasium strenger verlesen als in Hamburg und damit die Schülerschaft homogener. Doch auf der anderen Seite besuchen dort knapp 45 Prozent die Haupt- oder eine berufliche Schule, in Hamburg sind es nur 18 Prozent. Die PISA-Forscher attestieren der Hamburger Hauptschule denn auch eine „sozial homogene Schülerschaft mit hohem Migrantenanteil“. In Hamburg gibt es Schulen, in denen über 90 Prozent der Jugendlichen Migrationshintergrund haben.

Und so sprechen selbst die bayrischen

Ergebnisse für ein Ende des dreigliedrigen Schulsystems.