Der Bruder im Kofferraum

Der junge französische Autor Arnaud Cathrine eröffnet heute das Sommerfest der Literaturen. Sein Roman „Die Straße nach Midland“ ist ein Kain-und-Abel-Roadmovie

Der Schwerpunkt Frankreich bildet eine Klammer der vielen Veranstaltungen

Mit Kain und Abel fängt es an: „Wo ist dein Bruder Abel?“, fragt Gott in dem Zitat aus der Genesis, das Arnaud Cathrine seinem Roman „Die Straße nach Midland“ vorangestellt hat. Und wie in der Bibel antwortet Kain mit der rhetorischen Frage: „Bin ich der Hüter meines Bruders?“.

Will hat die Leiche seines Bruders Ray in den Kofferraum seines Vans geladen. Der Bruder hat sich eine Kugel in den Kopf geschossen, und Will fährt mit dem Sarg ins Salt Café bei Midland. Dort wartet Amy auf die Rückkehr von Ray, schon seit dieser sie vor Jahren kurz nach der Hochzeit verlassen hat.

So stellt sich die Situation in dem Roman dar, aus dem der junge französische Schriftsteller Arnaud Cathrine heute zur Eröffnung des Berliner Sommerfestes der Literaturen lesen wird. Er bildet damit den Auftakt zum großen Bücherfest auf dem Bebelplatz, gefolgt von Lesungen im Rahmen von Literatur Allerorten und dem Berliner Poesiefestival. Die Klammer bildet der Länderschwerpunkt Frankreich, vertreten etwa durch Arnaud Cathrine.

Eine Zapfsäule, ein Silo hinter dem Haus, ein halb abgedunkelter Schankraum: Die Kulisse für Cathrines stecken gebliebenes Roadmovie ist ein staubiges texanisches Motel wie aus dem Bilderbuch. Wer hier im Salt Café lebt, der wartet – darauf, sich irgendwann wieder (oder zum ersten Mal überhaupt) auf den Weg zu machen. Als Will mit der Leiche im Kofferraum bei Amy ankommt, sagt er erst mal gar nichts; nur einen Eistee und ein Zimmer im Motel will er haben. Er parkt den Van mit dem toten Ray in den Schatten und schweigt. Erst später beginnt er zu sprechen: Nicht mit Amy, aber mit ihrem Ziehsohn Singer. Wills Rede und die von Singer wechseln sich ab und überschneiden sich, jeder der beiden spricht mit sich selbst und beantwortet die Fragen des anderen. Perspektivisch gebrochen taucht dann auch noch eine Erzählung von Will auf, die Singer heimlich auf seinem Tonband aufgenommen hat, und das Resultat ist schließlich die Geschichte, die Will eigentlich bei seiner Ankunft Amy hätte erzählen wollen: Seine Geschichte und die von Ray – die Geschichte von zwei Brüdern, von denen der eine nicht der Hüter des anderen sein wollte.

Wenn man es genau nimmt, dann passiert in „Die Straße nach Midland“ nicht viel. Es geht um Orte und darum, wie sie das Leben beeinflussen. Es geht um den Wunsch, sich neue Beziehungen jenseits der Familie zu schaffen und darum, wie jemand mit seiner Vergangenheit umzugehen lernt. Und schließlich geht es um die Sprache: Wie kann man Worte finden für Geschehnisse, die eigentlich nicht geschehen sein dürfen, und für Gefühle, die man nicht gefühlt haben will? Wenn sich der Roman ständig um das Nichtsagbare herum bewegt, dann greift er damit ein Thema auf, das für Arnaud Cathrine auch in seinen früheren Büchern zentral war.

Schon in seinem ersten Roman, „Les yeux secs“, den er 1998 mit 25 Jahren veröffentlicht hat, geht es genau darum: Die Augen des Protagonisten bleiben trocken, das deutet der Titel an, obwohl es allen Grund gäbe zu weinen. In dieser Geschichte über die innere Einsamkeit dessen, der den Übergang zum Erwachsensein auf besonders brutale Art und Weise erlebt, stehen die ausbleibenden Tränen auch für die fehlenden Worte. Cathrines zweiter Roman, „L’invention du père“ (1999) weitet das Thema sogar auf ein ganzes spanisches Dorf aus, das unter der franquistischen Diktatur im Schweigen verharrt. Wann immer aber eine seiner Figuren gegen alle inneren und äußeren Widerstände Worte findet, gelingt es ihr auch tatsächlich, sich aus der Verstrickung zu befreien.

„Ich glaube, alle Jugendlichen schreiben. Einige hören auf, andere machen weiter“, hat Arnaud Cathrine einmal gesagt. Er hat weitergemacht, nachdem er noch als Schüler in einem Wettbewerb für Nachwuchsautoren gewonnen hatte. „Die Straße nach Midland“ ist der erste seiner Romane, der ins Deutsche übersetzt worden ist: Arnaud Cathrine weiß, dass er mit der Bewegung seiner Geschichten um das Schweigen herum nur die Bewegung nachzeichnet, die das Erzählen und das Schreiben überhaupt ausmacht.

ANNE KRAUME

Arnaud Cathrine liest heute um 13 Uhr im kleinen Zelt auf dem Bebelplatz.