Rudis bunter Bastelbogen

Erst ein Gegentor hat die deutsche Mannschaft bei diesem Turnier kassiert, ob die oft umformierte und nicht immer sattelfeste Defensivkette auch gegen torhungrige Brasilianer hält, ist die Kardinalfrage vor dem morgigen Finale

aus Yokohama FRANK KETTERER

Nun ist die deutsche Nationalmannschaft also doch noch einmal und wider allgemeines Erwarten zurückgekehrt ins Land des Lächelns. Am Freitag vormittag hob die DFB-Chartermaschine am Airport Gimpo in Seoul ab, keine zwei Stunden später hatten Deutschlands wertvollste Kickerbeine auch schon wieder festen Boden unter ihren Füßen, diesmal japanischen. Und noch vor dem Mittagsmahl konnten die Spieler ihre neuen Zimmerchen beziehen, die die letzten sein werden auf dieser langen, unglaublichen Reise, diesmal im noblen Yokohama Bay Sheraton Hotel, vor dem eine nette Hundertschaft Japaner sie erwartete – Fähnchen schwingend und natürlich freundlich lächelnd.

Wer hätte das gedacht? Die Deutschen sind bei dieser Fußball-Weltmeisterschaft tatsächlich angekommen im Finale, dem Ziel ihrer kühnsten Träume, der Endstation Sehnsucht. Und so verrückt diese WM auch gewesen sein mag, so viele Favoriten vorzeitig die Heimreise haben antreten müssen und so sehr das Turnier schon deshalb am Mangel wirklich hochklassiger Partien gelitten habe mag, das letzte Spiel, diese finale Partie am Sonntag im International Stadium von Yokohama ist der absolute Brüller, der Hammer, der Showdown, auf den die Fußballwelt 72 Jahre lang hat warten müssen: Deutschland gegen Brasilien – noch bei keiner WM zuvor standen sich die beiden Supermächte des runden Leders, der vierfache Weltmeister aus Südamerika und der dreifache aus Europa, gegenüber.

Zwei Philosophien

Und natürlich wird die ganze Fußballwelt am Sonntag nach Yokohama blicken, wo mit den beiden Giganten ja auch zwei Philosophien des Spiels im tosenden Oval stehen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Hier die Fußballkünstler vom Zuckerhut, die Ronaldos, Rivaldos und Ronaldinhos, die am Ball alles können und manchmal vielleicht sogar ein bisschen zu viel, Stichwort: Samba-Fußball. Dort die Fußballarbeiter aus Germany, die Hamanns, Jeremies und Ramelows, die das Runde nicht immer als Freund haben, aber rennen können und fighten und effizient sind, manchmal bis zum Erbrechen, und, diesmal ganz besonders, eine Mannschaft, Stichwort: deutsche Tugenden.

Und dass das alles keine leeren Klischees sind, zeigt schon ein Blick auf die WM-Statistik auch bei diesem Turnier, die typischer für das Duell nicht sein könnte: 16 Mal haben die Brasilianer bisher in Asien den Ball ins Tor geschickt, nur einmal die Deutschen ihn ins eigene kullern lassen (und das auch erst in der Nachspielzeit, wie mittlerweile alle immer wieder betonen), was einsamer Rekord ist, weil selbst Frankreich auf dem Weg ins Finale vor vier Jahren zwei Gegentreffer hinnehmen musste – und damit doppelt (!) so viele wie Ramelow und Kollegen.

Es wird morgen also ein Duell Angriff gegen Abwehr geben, das steht so fest wie Oliver Kahn im Tor, und Rudi Völler, der deutsche Teamchef, vorformuliert das so: „Wenn man zu früh die Deckung entblößt, kann das bitter enden.“ Das kann es im schlimmsten Fall auch bei heruntergelassenem Visier, dann nämlich, wenn die deutsche Verteidigungslinie um Carsten Ramelow sich als weit weniger stabiles Konstrukt erweist, als es der Ein-Gegentor-Rekord bisher vorgaukelt. Zwar wurde die Defensivarbeit der DFB-Elf zuletzt lauthals und bisweilen gar überschwänglich als bisher beste WM-Abwehr gefeiert, zuvorderst wegen ihrer Flexibilität (Stichwort: Dreier- und Viererkette und der flotte Wechsel vom einen auf das andere System), den Nachweis erbracht, auch einem Weltklasseteam mit Weltklassestürmern standhalten zu können, haben die Männer von ganz hinten bisher noch nicht. Brasilien ist da die Feuerprobe, die Jungfernfahrt für den deutschen Abwehrdampfer.

Umbau in höchster Not

„Was unsere Mannschaft auszeichnet, ist, dass wir in verschiedenen Situationen jedes Mal gut zurecht kommen“, findet der deutsche Abwehrfacharbeiter Christoph Metzelder, und es ist natürlich schön, dass er sich und seine Kollegen selbst so lobt; vergessen machen, dass die jeweiligen Umbauarbeiten in der Defensive stets in höchster Not vonstatten gehen mussten – und Oliver Kahn zu dem Zeitpunkt jeweils schon wieder ein paar Maschen mehr an seinem Mythos der Unbezwingbarkeit hatte stricken dürfen – kann das aber auch nicht. In der ersten Halbzeit gegen Kamerun beispielsweise wackelte die Dreierkette so lange, bis Carsten Ramelow sich nur noch durch ein doppeltes Foul zu helfen wusste. Zwar wirkte die danach zur Viererformation umgebaute Defensive in der Tat stabiler, warum andererseits die Kameruner ihre zuvor so leidenschaftlich und sehenswert vorgetragenen Angriffsbemühungen just zu diesem Zeitpunkt und gegen zehn Deutsche weitgehend einstellten, wird für immer ihr Geheimnis bleiben. Von Ronaldo und Kameraden sollten die Völler-Buben Gleiches besser nicht erwarten.

Schwimmende Kette

Das Spiel gegen Paraguay verbietet sich mangels gegnerischer Offensive von selbst, als Musterbeispiel deutscher Abwehrtugend herhalten zu dürfen, der danach dennoch hochgelobte Sebastian Kehl bewies gleich im Spiel danach gegen die USA eindrucksvoll, wie prima eine Dreierkette ins Schwimmen geraten kann, wenn man ihn den Chef mimen lässt. Bleibt das Halbfinale, in dem die Viererkette mit Metzelder, Ramelow, Linke und Frings wirklich und erstmals über 90 Minuten sicher stand, aber, sorry, es war halt Südkorea – und das auch noch ermüdet.

„Wir haben versucht, ein bisschen was zu basteln“, hat Rudi Völler dieser Tage gesagt, als er darum gebeten wurde, die durchaus überraschende Widerstandsfähigkeit seiner Abwehr zu erklären. Was vom Teamchef in erster Linie als lockeres Lob angedacht war, ist in Wahrheit eine ziemlich passende Zustandsbeschreibung, schließlich fehlen dem Defensiverbund bei dieser Weltmeisterschaft ja Stammkräfte wie Jens Nowotny, Christian Wörns und Marko Rehmer, im Prinzip also die erste Garnitur, was man so ganz auch nicht vergessen sollte, auch wenn’s fürs Finale kaum weiterhilft. „Die Jungs haben ihre Sache bisher ordentlich gemacht“, lobt Völler weiter jene, die in die Bresche gesprungen sind, vor allem also Ramelow, Linke und den jungen Metzelder. Wie gut Rudis Bastelarbeiten wirklich gelungen sind, wird sich endgültig freilich erst am Sonntag klären. „Es kann passieren, dass sich die beiden Mannschaften komplett neutralisieren“, sagt vorab Torhüter Oliver Kahn. Vor allem für die deutsche Abwehr wäre das der Ritterschlag.