Abwarten, verzögern, siegen

Deutschland hat sich ins WM-Finale gemogelt. Das kennt man. Neu ist Völlers Stil, der zur Schröder-Ära passt: Wir machen nichts anders, dafür aber einen netten Eindruck

Die Deutschen haben gezeigt: Man kann sich ins Finale zweifeln, wenn man etwas vom Zweifeln versteht

Wo steht Deutschland heute? Wer weiß. Morgen aber steht Deutschland im Finale. Der Fußball erleichtert die Beantwortung der Standortfrage. Wie das zugegangen ist? Miroslav Klose hatte schon beim Halbfinaleinzug „keine Ahnung, wie wir dort hingekommen sind“. Vor dem Spiel gegen Brasilien dürfte seine Ratlosigkeit noch größer sein. Viele Deutsche sind von dem Gefühl beherrscht, sich beim Rest der Welt für diesen Aberwitz der Vorsehung entschuldigen zu müssen. Sind nicht in Wirklichkeit alle anderen besser gewesen?

Solche Skrupel zu äußern heißt, schuldzerknirscht deutsch zu denken. Es bedeutet, in der Immanenz des fußballerischen Geschehens gefangen zu bleiben, anstatt die große historische Notwendigkeit anzuerkennen: Die WM der Überraschungen endet mit der statistisch erwartbarsten und doch unwahrscheinlichsten aller Finalpaarungen. Endlich treffen die beiden Mannschaften aufeinander, die in 11 von 16 WM-Endspielen seit 1930 vertreten waren, ohne sich dabei jemals begegnet zu sein. Die finale Pointe der WM ist ihre größte Überraschung: die Bekräftigung der bestehenden Machtverhältnisse.

Niemand ist davon überraschter als die Deutschen selbst oder, wie Harald Schmidt sagt: Deutschland unter den letzten zwei – das haben wir zuletzt bei der Pisa-Studie erlebt. Die WM stellt die Bildungshierarchie vom Kopf auf die Füße. Nun sind wir plötzlich wieder vorn, und doch hat sich nichts geändert.

Das Spiel der deutschen Mannschaft ist die exakte räumliche Darstellung des Bildungsdesasters, die quälende Inszenierung des Defizits. Es mangelt an Kreativität, an Mut, an Spielwitz. Selten gelangt der Zuschauer bei der praktizierten pragmatischen Neunzigminutenbewältigung an die „Grenze zum Genuss“, die Johannes B. Kerner im Spiel der Koreaner erreicht wähnte. Vom Geist der Utopie, der einst, 1972, die Pässe Günter Netzers beflügelte, ist schon lange nichts mehr zu spüren. Ja, aus Netzer ist ein öffentlich-rechtlicher Experte geworden, dessen Ideale in jedem Spiel aufs Neue bitter an der arbeitsteiligen Wirklichkeit zerschellen. Wie sollte man von dieser Mannschaft beherztes Flügelspiel erwarten, wenn in Deutschland niemand mehr weiß, wo rechts und links eigentlich sind und alle zur Mitte drängen?

Die Ära Schröder ist die Ära des Konfliktmanagements und des moderaten Interessenausgleichs. Ihr Held ist der Moderator, ihr adäquater Ort der runde Tisch. Da kann es keinen Spielmacher mehr geben, und die Verantwortung wird so lange hin und her geschoben wie der Ball, bis sie dann verloren geht. Weil die Emotionalität auf dem Platz unsichtbar geworden ist, brauchen wir die Geschichten drumrum. Das „Drama um Ballack“ beispielsweise. Er soll ja in der Kabine geweint haben. Wahnsinn.

Selbst die viel beschworenen deutschen Tugenden des Kämpfens & Rackerns kommen nur noch gelegentlich zur Anwendung. Die Spielweise lässt sich eher als kollektive Verschleppungsanstrengung beschreiben, als fundamentale Verzögerungstaktik, als ein einziges Dahinsiechen, das noch den lebendigsten Gegner früher oder später entkräftet. Man kann sich auch ins Finale zweifeln, wenn man etwas vom Zweifeln versteht. Positiv formuliert nennt sich das Realitätssinn. Wer die eigenen Grenzen kennt, beschränkt sich auf das Machbare. Das ist die neue deutsche Tugend.

Günter Netzer ist anzusehen, wie viel Qual es verursacht, dabei zuzusehen. Doch er, der nichts beschönigt, verkörpert das Prinzip Aufklärung, für das auch Rudi Völler steht: Man soll die Dinge nicht beschönigen und wird dafür mit Erfolg belohnt. In einem Wahljahr war es noch immer ein höherer Moralbeweis, den Menschen mitzuteilen, dass sie in Zukunft mit weniger zufrieden sein müssen.

Dabei ist es erst zwölf Jahre her, dass Deutschland Weltmeister wurde und der deutsche Kaiser die Prognose wagte, diese Mannschaft sei nun auf Jahre hinaus unschlagbar. Das täte ihm Leid für den Rest der Welt, aber so sei es nun mal. Es war das Jahr der Wiedervereinigung, in dem die Deutschen noch glauben konnten, eins plus eins ergebe ein Ganzes. Was folgte, war eine Schule der Demütigungen. Bulgarien 1994, Kroatien 1998, Portugal 2000. Die Krise als Dauerzustand. Schlimmer als die 0:3-Niederlage gegen die portugiesische B-Auswahl und das Ausscheiden bei der Europameisterschaft konnte es nicht mehr kommen. Deutschland war da angelangt, wo es auch in der Pisa-Studie steht: im europäischen Vergleich ziemlich weit unten.

Bewundernd blickte man in den Neunzigerjahren nach Frankreich und pries die französischen Fußballinternate, in denen Nachwuchs regelrecht herangezüchtet werde. Frankreich, so hieß es, habe darüber hinaus das Glück, aufgrund seiner kolonialen Vergangenheit nun mit einer multiethnischen Mannschaft auflaufen zu können, in der sich afrikanische Kunstfertigkeit und europäische Disziplin ergänzten. Deutschland litt demnach nicht nur unter einem Bildungsnotstand, sondern auch unter den Spätfolgen des Ersten Weltkriegs und einem veralteten Staatsangehörigkeitsrecht.

Wie soll man beherztes Flügelspiel erwarten, wenn niemand mehr weiß, wo rechts und links ist?

Doch 2002 haben die Verhältnisse sich umgekehrt. Die alten Kolonien rächen sich. Senegal schlägt Frankreich und erklärt den Sieg über das Mutterland zum Nationalfeiertag. Deutschland schafft es gerade noch, Kamerun in die Knie zu zwingen. Schließlich gibt es Gerald Asamoah als schwarzes Maskottchen und Symbol der Weltoffenheit, außerdem einen französischen Schweizer und einen polnischen Pfälzer im Sturm. Die Türken aber, die größte Minderheit im Lande, dürfen nicht mitspielen und bilden eine eigene Mannschaft. Der Leverkusener Bastürk und der Allgäuer Mansiz haben sich im roten Trikot ausgezeichnet. Unser Glück, dass wir nicht gegen sie antreten mussten. Die Türkei wäre zum Senegal Deutschlands geworden, und Peter Struck hätte niemals, wie nach dem Spiel gegen Kamerun, verkünden können: „Nun werden auch wir die Schwarzen schlagen!“

Beckenbauer war das Prinzip Großkotzigkeit, Vogts das Prinzip Dummheit, über Ribbeck kein Wort. Mit Völler triumphieren nun die protestantischen Tugenden Bescheidenheit & Ehrlichkeit. Das Spiel der deutschen Elf aber hat sich in all der Zeit kaum verändert. Sie hat sich immer irgendwie durchgewurschtelt. Schon 1990 spielte sie mäßig und mogelte sich ins Finale.

Hätte die Mannschaft unter Berti Vogts so gespielt wie bei dieser Weltmeisterschaft, wäre sie noch beim Finaleinzug überall verhöhnt worden. Berti Vogts hatte eben nie begriffen, dass entscheidend nicht auf’m Platz ist, sondern daneben. Denn wenn man nichts ändern kann, weil die Dinge und die Spieler so sind, wie sie sind, dann muss man wenigstens sympathisch wirken. So macht es Gerhard Schröder, so macht es Rudi Völler. JÖRG MAGENAU