Das Wunder vom Bärn

Und jetzt geht raus und schlagt die Brasilianer: Wie Rudi seinen Rumpelfüßlern für das große Spiel Mut machte. Ein Märchen aus dem schicksalsträchtigen Jahr 1954, kürzlich aus Motivationsgründen in Yokohama zur richtigen Zeit noch einmal erzählt

von ULI HANNEMANN

Wir sind wieder wer! Lasst sie doch über „Rumpelfußball“ jaulen, diese Engländer und Italiener, diese Spanier und Franzosen, diese gehässigen kleinmütigen Neider – schlechte Verlierer allesamt. Da fahr ich nicht mehr hin. In Länder, da wo so Leute wohnen, die wo so einen schlechten Charakter haben, da hab ich nichts verloren. Die sollen sich doch freuen, dass sie so schnell wieder zu Hause sind und gekochten Hammel in sauer eingelegte Popel stippen können. Oder, dass sie endlich wieder daheim sind, bei Mamma. Hat man denn schon mal gehört, dass eine erwachsene Nationalmannschaft geschlossen bei Mamma wohnt: Wie soll man da selbständig Erfolge erzielen?

Überhaupt „Rumpelfußball“: Erstens stand es den Pharisäern völlig frei, es selber ruhig mit was anderem zu versuchen; und zweitens wurde Rumpelfußball ja wohl nicht umsonst von der Unesco unlängst zum Weltkulturerbe erklärt.

Wir sind wieder wer! Zwar wissen wir nicht genau, wer, aber irgendwer sind wir ganz bestimmt wieder, das wird an Tagen wie diesem deutlich spürbar. Schon einmal waren wir plötzlich wieder wer geworden, und die Parallelen von damals zu heute liegen deutlich auf der Hand: Auch damals, 1954, hatte das Land gerade ein schreckliches selbst verschuldetes Blutbad hinter sich, auch damals folgte Demütigung auf Demütigung. Und heute, tausend Jahre später? Erfurt, Euro, Pisa, (Cordoba, Tallinn, Verona … die Liste ließe sich beliebig fortsetzen). Und auch damals wurde, dass wir wieder wer sind, in erster Linie durch das „Wunder vom Bärn“ eingeläutet.

1954, ein Hotel in der Schweiz: Ungemütlicher Juniregen prasselte an die Scheiben, der „Fritz“ und der „Boss“ saßen auf dem rechten, der „Toni“ und die „Gurke“ auf dem linken Knie vom „Chef“, der ihnen am knisternden Kaminfeuer gerade eine Gespenstergeschichte über den „Geist von Spiez“ erzählt hatte. Nun quengelten die Jungs und der „Chef“ musste sich rasch etwas Neues ausdenken – es schlug die Geburtsstunde des „Wunder vom Bärn“:

Hoch oben im Norden (auch schon im Achtelfinale ausgeschieden) lebte einmal ein einsamer alter Bär. Es wurde Herbst, bald würde es Zeit werden für den Winterschlaf und er war ganz alleine. „Wäre doch ein Wunder“, dachte sich der Bär, „wenn ich alter Bär noch eine nette Gesellschaft fände für den Winter. Ach, ich bin alt und grau, ach, das wird wohl nichts mehr werden, ach, wenigstens habe ich noch meinen kleinen Hund, der bei mir ist …“ Und eines Morgens stand sie dann plötzlich vor seiner Höhle: eine wunderschöne junge Bärin – nennen wir sie Verona. Sie lächelte und ihr Bauchnabel-Ring blitzte in der Sonne. „Darf ich reinkommen?“, fragte sie nur. Sie durfte. Es wurden wunderschöne Tage. Täppisch tollte der alte Bier mit ihr über die herbstlichen Wiesen. Sie steckten sich gegenseitig Ameisen in den Mund und schworen sich ewige Treue.

Bald aber ging die Meckerei los: „Deine Tapeten“, nörgelte Verona, „deine Flöhe, dein dicker Bauch …“ In Wahrheit hatte sie es nämlich nur auf seine gemütliche Höhle abgesehen und auf die darin gestapelten Lachsschnittchen. Ständig schlimmer wurde das Genöle: „Dein blöder kleiner Köter“, spottete sie, „du bist der erste Bär, den ich kenne, der so ein Schwulenhündchen hat …“ ZACK!! Was zu viel war, war zu viel! Der alte Bär schleifte die Leiche in die Speisekammer und legte sie zu den Kanapees. „So seht ihr“, schloSS der „Chef“, „dass nicht nur die Demütigungen auf das Blutbad folgen, sondern manchmal auch umgekehrt – also geht hinaus und schlagt die Ungarn!“

Ganz ähnlich dann im Jahre 2002: Schwere Graupelschauer trommelten gegen die Fenster der bescheidenen Unterkunft des DFB in Yokohama. Auf dem Schoß von „Rudi“ saßen „Cyborg I“, „Cyborg II“, „Cyborg III“ und „Cyborg IV“. Gerade hatte der grau melierte Gymnastiklehrer sich tausendjährige Erfahrungen zunutze gemacht und ihnen das „Wunder vom Bärn“ erzählt. Die Demütigung des Bären sei ein Symbol für die Verächtlichmachung durch englische und spanische Presseorgane, erklärte der „Rudi“ feierlich, weil sie sonst nichts verstanden hätten, die rumpelfüßigen Kinder von Pisa, „und jetzt geht raus und schlagt die Brasilianer!“

Und sie gingen raus und verloren, denn Wunder wiederholen sich nur selten. Aber wenigstens wissen wir jetzt wieder genau, wer wir sind: Vizeweltmeister.