nordirische nächstenliebe von RALF SOTSCHECK
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Auch in Nordirland ist es Sommer, wenn auch nur dem Kalender nach, und die Menschen packen ihre Koffer, um zu verreisen. Jedenfalls die Katholiken. Sie überlassen die Krisenprovinz den Protestanten, deren wichtigster Feiertag herannaht: Am 12. Juli besiegte Wilhelm von Oranien seinen katholischen Schwiegervater Jakob II. in der Schlacht am Boyne und sicherte dadurch die protestantische Thronfolge in Großbritannien. Das ist zwar gut 300 Jahre her, aber die Protestanten, die ihren Helden zärtlich „King Billy“ nennen, bejubeln den Sieg, als ob Wilhelm gerade Torschützenkönig bei der Fußballweltmeisterschaft geworden sei.

Die Katholiken bringen sich vorsichtshalber außerhalb Nordirlands in Sicherheit, denn es sind nicht nur die Durchgeknallten, sondern auch normalerweise moderate Mittelschichtler, die in dieser Jahreszeit zu glühenden Oraniern werden. Damit aus den Babys später auch anständige Billy Boys werden, wird das von klein auf geübt. Schon im Alter von sechs Jahren weiß ein Drittel aller nordirischen Kinder, auf welche Seite es hingehört. Bei den Oranierparaden, von denen es rund 3.000 Stück im Jahr gibt, kann man Andenken für die Jüngsten kaufen, zum Beispiel kleine Sabberlätzchen mit dem Aufdruck: „Proud to be a Baby Prod“. Vernünftiger wäre es, sie ein paar Nummern größer herzustellen, damit auch Demagogen wie der Presbyterianer-Pfarrer Ian Paisley sich den Sonntagsanzug nicht mit Geifer bekleckern.

Mehr als die Hälfte der Dreijährigen hat eine deutliche Vorliebe für Symbole und Feiertage der eigenen Seite. Nach der Einschulung – nur vier Prozent aller Kinder besuchen eine gemischtreligiöse Schule – entwickelt sich bei den Kleinen ein noch extremeres Bild von der anderen Seite: „Katholiken tragen Masken und werfen Scheiben ein“, findet eine Vierjährige. Und die irische Trikolore weht nur über Häusern von schlechten Menschen, meint eine Sechsjährige. Die Angaben beruhen auf einer Studie der University of Ulster.

Neu sind diese Vorurteile nicht: Als ich in den Siebzigerjahren in der protestantischen Hochburg Lisburn als Lehrer arbeitete, behauptete eine protestantische Kollegin einer 4. Klasse gegenüber, dass sie Katholikin sei, weil sie die Nase voll von ihren Vorurteilen hatte. In der folgenden Stunde fragten mich die Zehnjährigen entsetzt, ob das möglicherweise stimme? Da ich mich nicht darauf einließ, beantworteten sie die Frage selbst: Sie könne unmöglich katholisch sein, da ihre Augen nicht eng beieinander stünden und sie außerdem nicht stinke. Das meinten sie ernst.

Auf katholischer Seite sind die Vorurteile keineswegs geringer. Viele halten Protestanten für von Grund auf schlecht, weil sie Katholiken umbringen wollen. Und bei den Dreijährigen ist die Abneigung gegen die Polizei doppelt so groß wie bei den gleichaltrigen Protestanten. Das ist allerdings kaum ein Vorurteil: Bei einer unabhängigen Untersuchung kam jetzt heraus, dass die zu 93 Prozent protestantische Polizei jahrzehntelang mit Terrororganisationen Mordkomplotte gegen Katholiken geschmiedet hat.