Der Ball will gestreichelt werden

Der Fußball, so er denn einen eigenen Willen hat, hat im Endspiel von Yokohama entschieden: Er will doch lieber gespielt, nicht gearbeitet werden

aus Yokohama FRANK KETTERER

Aus, aus, aus, das Spiel ist aus. Deutschland ist … nein, um Gottes willen! Deutschland ist nicht Weltmeister, und – nur so unter uns – wahrscheinlich ist das ganz gut so. Ach was: Ganz sicher ist es das! Der Fußball, so er denn überhaupt über einen eigenen Willen verfügt, hat sich gestern in Yokohama dann doch noch anders entschieden: Er will gespielt werden und nicht gearbeitet. Oder: Er mag bisweilen doch lieber gestreichelt werden als immer nur getreten. Also: Das Spiel ist aus, und Brasilien ist Weltmeister. Wenigstens dies eine Mal blieb bei dieser verrückten WM das Unmögliche auch wirklich unmöglich.

Dabei: Für den deutschen Fußball spielte es doch schon vor dem großen Finale keine allzu große Rolle mehr, ober er dieses nun auch noch gewinnt oder eben nicht. Platz zwei ist ja auch nicht so schlecht. Und setzt man ihn in Relation zu dem, was von der Mannschaft im Vorfeld erwartet wurde, ist er nichts weniger als eine Sensation. Und Rudi Völler mehr denn je der Glücksfall schlechthin. Auf einer Ruine hat er wieder ein wohnbares und gar nicht so unbehagliches Gebäude errichtet, noch keine Villa mit Swimming-Pool und so, aber immerhin: ein nettes, solides Reihenhäuschen, sogar mit kleinem Garten, um das einen die Engländer und Spanier und Italiener und sogar die Franzosen nun ein bisschen beneiden.

Anders gesagt: Deutschland ist wieder wer, zumindest im Fußball. Dass das nur durch die Reinkarnation der deutschen Tugenden, also durch Kampf, Ordnung und Gemeinschaftssinn und auch ein bisschen Glück erreicht wurde, ist letztendlich nichts Verbotenes, sondern einfach typisch deutsch.

Und nur um festzustellen, dass der Kicker aus Germanien nicht so kunstfertig mit dem Ball umzugehen weiß wie beispielsweise jener vom Zuckerhut oder auch nur der Franzose, hätte man sich die Asienreise von Anfang an sparen können. Oder, wie Rudi Völler es während dieser WM schon mehrfach herausgekehrt hat: Wenn immer die beste Mannschaft gewänne, wäre Brasilien seit gestern nicht erst 5-mal Weltmeister, sondern 15-mal. Die Herren Ramelow, Linke, Metzelder, Frings, Jeremies, Hamann, Schneider, Ballack, Bode, Neuville und Klose hingegen haben aus ihren durchschnittlichen Möglichkeiten einfach das Bestmögliche gemacht. Das hat mit Effizienz und Realismus zu tun, darauf hat man sich mittlerweile auch im Ausland verständigt, was natürlich schon wieder recht deutsch klingt, aber letztlich doch nicht zum Vorwurf gemacht werden kann.

Also noch mal und gerade deswegen: Deutschland ist wieder wer. Aber: Wer ist Deutschland denn nun? Mit Sicherheit nicht das, was das nackte Ergebnis vorgaukelt: die zweitbeste Fußballmannschaft der Erde. Das ist nun wirklich nichts anderes als eine Momentaufnahme, geknipst in einem ziemlich verrückten Moment übrigens. Das Team von Völler hat aber auch nichts mehr gemein mit den Rumpelfüßlern, die vor zwei Jahren unter Nichtbundestrainer Erich Ribbeck mit Schimpf-und-Schande-Fußball die Vorrunde der EM nicht überstanden – außer einem gut Teil der Spielernamen. Und die Wahrheit liegt diesmal (wahrscheinlich) nicht auf dem Platz, sondern in der Mitte. Will heißen: Der deutsche Fußball, speziell jener der Nationalmannschaft, liegt nicht ganz so kränkelnd danieder, wie noch kürzlich allseits angenommen wurde, aber er ist auch keineswegs so kerngesund, wie er nun wieder gemacht wird.

Schon deshalb wäre der Gewinn des Titels einfach zu viel des Guten gewesen. Denn wie hätte man danach noch für nur ein Fünkchen Realitätssinn sorgen sollen zu Hause in Fußball-Deutschland, wo die großen Bosse der Bundesligavereine doch auch so schon von einem noch nie erlebten Fußballboom schwadronieren und das Eurozeichen in ihren Augen glänzt. Kirch-Krise? Fußballkrise? Lächerlich. Gab’s nie. Deutschland ist schließlich Vizeweltmeister! Ende gut, alles gut! Haben ja alles richtig gemacht. Also: Weiter so, und zwar volle Kraft voraus.

Von wegen, genau darin steckt doch jetzt die Gefahr: Dass alle Hilfs- und Förder- und Rettungsprogramme für den zuvor als kränkelnd angesehenen deutschen Fußball wieder in den Orkus gespült werden, frei nach dem Motto: Haben wir doch nicht nötig. Wir sind doch Vizeweltmeister.

Nur zum Schluss und zur Erinnerung: Als deutsche Kicker das letzte Mal einen Erfolg bei so einer WM zuwege brachten, damals, zu Zeiten der Wiedervereinigung, prognostizierte der Fußballweise Franz Beckenbauer, Deutschland werde auf Jahre und Jahrzehnte hinaus unschlagbar, wenn nun auch noch die Kameraden aus dem Osten der Republik hinzukämen. Seit diesem Satz des Firlefranz ging es, die EM 1996 in England einmal ausgenommen, nur noch bergab, auch mit den Kameraden. Gut, dass Rudi Völler gestern Abend in Yokohama keinen solchen Blödsinn verzapft hat. Wirklich gut, dass Deutschland nicht Weltmeister geworden ist.