Im kühlen Schatten der Rezession

Von spanischen Kunstkaufhäusern und anderen Utopien: Wie Arbeit und Leben in einem Ladenlokal am Kurfürstendamm einmal zusammenfanden – und wie der Ausflug ins Reich der Flexibilität dann endete. Eine Berliner Wintergeschichte

von KOLJA MENSING

Diese Geschichte erzählt von einer Utopie und ihrem Scheitern. Es ist eine Wintergeschichte, und wie alle Wintergeschichten beginnt sie im Sommer, im langen Sommer der Neunzigerjahre, in dem man über Berlin die Sonne nicht mehr untergehen sah und alle Welt auf die golden schimmernden Dächer der Stadt schaute wie auf die Bauten des Neuen Jerusalem: In dieser Stadt, raunte man sich damals zu, würden ganze Generationen junger Menschen in die Zukunft gerichtete Lebensweisen erproben und den Schleier der Resignation, der sich in den Achtzigerjahren über beide Hälften des geteilten Landes gelegt hatte, beiseite reißen.

Eine der vielen Blumen, die in jener Zeit auf den sozialistischen Trümmerbergen vor allem im Osten der Stadt Berlin ihre Blüten trieben, war die so genannte New Economy. Freundliche Büros wurden in frisch renovierten Häusern angemietet, in denen noch gestern ein Techno-Club und vorgestern ein FDJ-Sekretär residiert hatte.

Arbeitsfrühstückim After-Work-Club

An den Konferenztischen trafen sich die gerade dreißig Jahre alt gewordenen Werber, Webdesigner und anderen Angehörigen der flugs aus der Taufe gehobenen „Generation Berlin“, um im Minutentakt Ideen zu produzieren. Dabei standen sie mit einem Bein in der neu eröffneten Coffee-Bar und mit dem anderen im After-Work-Club, wo ihre Künstlerfreunde und DJ-Bekannten wiederum ihr Arbeitsfrühstück einnahmen: Aus der alten Berliner Ökonomie, die das Arbeitsleben gegen Lebenskunst eintauschen wollte und das Scheitern dabei gleich einkalkuliert hatte, war jetzt die Kunst geworden, Arbeit und Leben mit Hilfe eines gut dotierten Honorarvertrages zusammenzuführen.

Auch die jüngeren Brüder und Schwestern der Generation Berlin – der Nachwuchs, der wie eh und je in den Provinzen rekrutiert wurde –, auch sie erlagen dem Versprechen der im späten Sommer der Neunzigerjahre mild von der Sonne beschienenen Stadt, Selbstverwirklichung und Karriere in einem attraktiven Gesamtentwurf aufzulösen: Wer noch keine Aussicht auf Venturecapital oder eine Projektbeteiligung, einen risikofreudigen Galeristen oder großzügigen Sponsor hatte, weil er noch im Studium steckte oder die nötigen Kontakte bisher nicht geknüpft hatte, sah im sanften Licht wenig Sinn darin, die finanziellen Unwägbarkeiten dieser Situation weiterhin Nacht für Nacht mit einem schlecht bezahlten Job in den verrauchten Kneipen von Kreuzberg, Mitte oder Prenzlauer Berg auszugleichen.

Noch ahnten sie nicht, dass der lange Sommer sich gemeinsam mit den Neunzigerjahren spätestens zur Jahrtausendwende verflüchtigt hatte. Der Herbst jedoch stand bereits vor der Tür.

So fand sich auf der Suche nach einem attraktiven, präkarrieristischen Job an einem täuschend warmen Oktobertag im Jahre 2001 eine große Zahl junger Menschen zu einem Vorstellungsgespräch am Kurfürstendamm ein. Durch eine entsprechend formulierte Anzeige angelockt, studierten sie alle Bildende Kunst, Grafikdesign und verwandte Fächer oder hatten sie gerade ohne anschließendes Engagement abgeschlossen. Ein spanisches „Kunstkaufhaus“, dessen Eröffnung kurz bevorstand, suchte visuell geschultes Personal und warb mit allerlei Versprechungen um die kreativen Jobsuchenden: flexible Arbeitszeiten, Teamgeist, Internationalität, dazu – nach dem Vorbild der Filialen in Madrid und Barcelona – die Gelegenheit, auf den Vernissagen der wechselnden Ausstellungen mit etablierten Künstlern und dem dazugehörigen Betrieb gleich in Kontakt zu treten. Quasi nebenher galt es die in großen Lieferwagen aus Spanien herbeigeschafften Manet-Kalender, Warhol-Notizbücher und hochpreisigen Drehbleistifte zu verkaufen sowie Poster und Originalkunst im Schnellverfahren zu rahmen.

Besser konnte man es gar nicht treffen, dachten die angehenden Designer, Künstler und Werbegrafiker und unterschrieben die Verträge, in denen dazu ein überdurchschnittlicher Stundenlohn vereinbart wurde.

FolkloristischeÜberstunden

Als die angeworbene Belegschaft sich dann in ihrer Sonntagskleidung zum Arbeitsbeginn einfand, war die Herbstluft schon ein wenig kühler geworden. Die Eröffnung war kurzerhand verschoben worden, und die „Chicas“, wie das überwiegend weibliche Kreativpersonal von der spanischen Geschäftsführung liebevoll gerufen wurde, durfte sich erst einmal auf unbestimmte Zeit mit Putzlappen und Eimer nützlich machen.

Nach gut zwei Wochen Säuberungsarbeiten öffneten schließlich die Türen des Kunstkaufhauses. Mit einer großen Party sollte sogleich die Verbundenheit des neuen Ladens mit der Berliner Kunst- und Kulturszene, von der man auch in Barcelona und Madrid schon Großes gehört hatte, etabliert werden. Die Chicas wurden umgehend mit einem knappen Verweis auf den Teamgeist des Unternehmens zu unbezahlten Überstunden und Kellnerinnendiensten verpflichtet.

Anschließend durften sie Zeuge davon werden, wie unter dem Beifall der geladenen Gäste – unter anderen Schauspielgrößen benachbarter Ku’damm-Bühnen und die Reporter von Bild, BZ und Morgenpost – eine mit Ausstellungen in Levi’s-Stores bekannt gewordene Berliner Malerin eine bekannte Moderatorin des Privatfernsehen im Pop-Art-Stil porträtierte.

Auch in den nächsten Wochen kamen nicht Künstler und Galeristen in den Laden, sondern vor allem schwule Charlottenburger, die ihre aus Westdeutschland angereisten Mütter zum Shopping ausführten. Auch eine lange vorbereitete Gutscheinaktion in der Berliner Ausgabe der Bild brachte die Angehörigen der kreativen Milieus nicht in den Laden. Von kaufkräftigen Konsumenten der neuen Berliner Ökonomie ganz zu schweigen. Dafür flog der Firmenchef für einen Vormittag aus Spanien ein: ein in teures Schwarz gekleideter, nicht besonders groß gewachsener Herr mit Schlapphut. Er ließ sich „Pedro“ nennen, drückte die erstaunten Chicas der Reihe nach mit großer Geste an seine Brust und verlieh dem immer windiger erscheinenden Unternehmen eine leicht mafiöse Note.

Nachdem die spanischen Geschäftsführer mit folkloristischen Appellen und drohenden Verweisen auf Pedro auch weiterhin unbezahlte Überstunden durchzusetzen versuchten – „in Spanien absolut üblich“ – beschlossen die Chicas, einen Betriebsrat einzusetzen.

Mittlerweile war es Winter geworden in Berlin, und während der Kurfürstendamm sich mit weihnachtlichen Lichtern zu schmücken begann und eine vage Hoffnung auf Schnee in der Luft lag, begann für die Belegschaft des Kunstkaufhauses ein Schnellkurs in Arbeitnehmermitstimmung, aus dem dann allerdings eine Kraxeltour durch die verschneiten Täler des postmodernen Managements wurde. Der spanische Konzern, der das Kunstkaufhaus in Berlin eröffnet hatte, hatte seine Hierarchien nämlich so flach gehalten, dass die vermeintlichen Geschäftsführer auch nichts anderes als einfache Angestellte waren – und nun auf Aufnahme in den Betriebsrat drängten.

Bevor allerdings dieses wirtschaftsrechtliche Abenteuer zu Ende geführt werden konnte, verwandelte es sich zum Jahreswechsel endgültig in eine schlichte Räuberpistole: Als die Belegschaft am Tag nach Neujahr pünktlich um halb zehn zum Arbeitsbeginn antrat, war der Laden weitestgehend geräumt, Computer und Maschinen zur Rahmenfertigung gegen ältere Modelle ausgetauscht, und die Bestände der Cafeteria waren ordentlich reduziert. Leere Flaschen kündeten von einer kurzen, aber heftigen Silvesterfeier, in deren Anschluss die Geschäftsführung sich offenbar dazu entschlossen hatte, die wertvolleren Teile der Ladeneinrichtung auf einige Lkw zu verteilen und sich auf den Weg zurück nach Spanien zu machen. Das war das Ende der Utopie, die die Einheit von Arbeit und Leben, Dienstleistungsgesellschaft und kreativer Existenz versprochen hatte.

Es folgte ein verregnetes Frühjahr, in dem die Chicas sich im Schatten der landesweiten Rezession von ihrem Ausflug in das Reich der Flexibilität erholten. Sie lasen in den Zeitungen die großen Abschiedsartikel auf die New Economy und bereiteten ihren Weg zurück in die verrauchten Untergeschosse des Berliner Dienstleistungssektors vor.

Vor einigen Tagen, längst wärmt die Sonne auch in Berlin wieder mit mediterraner Kraft, erreichte sie alle ein Schreiben des zuständigen Arbeitsgerichtes, in dem die Insolvenz des zum Kunstkaufhaus gehörenden Unternehmens festgestellt wurde. Eine der jungen Frauen, sie ist gewissermaßen die Heldin dieser Erzählung, hatte den amtlichen Fensterumschlag morgens ungelesen eingesteckt.

Hundert Menschenund ein Sommer

Sie öffnete ihn erst jetzt, als sie mit hundert anderen jungen Menschen auf ein Vorstellungsgespräch für einen der üblichen, schlecht bezahlten Jobs anstand, der sie über die nächste kalte Jahreszeit bringen sollte. Sie las das Schreiben, blickte auf die jungen Menschen, die vor ihr standen, und dann trat sie aus der langen Schlange heraus, hinein in den hellen Berliner Junitag. Die junge Frau blinzelte. Wintergeschichten beginnen im Sommer, und sie enden auch dort.