berliner szenen Währung und Werte

Drohen mit dem Euro

Zwölf Uhr mittags an der Schönhauser Allee. „Jeder ist sein eigener Teuro-Sheriff“, prangt es in dicken roten Lettern vom Zeitungsstand. Lässig schlendere ich an den spiegelnden Scheiben der zahllosen Bekleidungs- und Schuhgeschäfte vorbei. Erst mal in die Stargarder Straße, die neu besohlten Stiefel abholen. Der Schuster streicht sich über seinen mächtigen Schnurrbart: „Tschut, tschut, immer mit der Ruhe …“ Umständlich überprüft er meine Abholkarte, stempelt die Quittung, stempelt die Abholkarte. Er zuckt mit den Schultern: „Deutschland. Viele Stempel.“

Endlich rückt er die Ware raus. Fünfzehn Euro!? Na ja, immer noch billiger als neu kaufen. Weiter geht’s in Richtung Schönhauser Allee Arkaden. An der Ecke treffe ich Sergej, der lautstark telefoniert. „Da. Da. Eto ujasno. Ciao!“, brüllt er in sein Handy. Dann haut er mir auf die Schulter. „Wieder eine Lieferung klar“, freut er sich. Sergej verkauft russisches Erdgas im Auftrag der Gasprom. Die Kartusche für 20 Euro: „Alles für Cash und keine Fragen.“ Natürlich ist Sergej weder Russe noch im Auftrag der Gasprom tätig. Er füllt die Flaschen bei seinem Schwager ab, der arbeitet bei der Bewag. Früher, als Sergej Türsteher in einer Karlshorster Kellerkneipe war, nannten sie ihn den „Chirurgen“. Neuerdings ist sein Spitzname „Anästhesist“. Vielleicht sollte ich ihn mal nach der Akzeptanz des Euros in der Szene fragen. Sergej drückt seine filterlose serbische Zigarette auf dem Pflaster aus. „Kommt prima an, glaube ich“, meint er. „Neulich hat mein Schwager einen Drohbrief erhalten, der war schon auf die neue Währung umgestellt.“ Das will ich doch genauer wissen – wie droht man mit dem neuen Geld? Sergej grinst: „Schreib einfach: Dein Leben ist keinen Cent mehr Wert, du Sau!“ ANSGAR WARNER