Die Angst der Gefilmten

In „Soul of the Century“ kompiliert Michael Kuball private Filme aus achtzig Jahren

Es ist schön, den alten Freud zu sehen oder Marie Curie beim Schlittschuhlaufen

Am Anfang und am Ende steht das Hippietum; eine Band singt leicht folkrockmäßig statt von „The spirit of the sixties“ von „The Soul of a Century“. Dann kommen alte Filmaufnahmen von 1918, in Schwerin gedreht. Eine adlige Familie steht vor der Kamera und macht Sachen, von denen sie denkt, das sie lustig ausschauen. Der Onkel steckt dem Kind lachend eine Zigarette in den Mund. Die Stimme einer alten Frau sagt etwas zur Entstehung dieser Bilder, deren Materialität sich aufdrängt: Es ist ja nicht so, dass wir als Zuschauer das Gleiche sehen wie der, der damals durch die Kamera guckte. Die Bilder sind undeutlich, oft zerkratzt, unscharf, changieren in Grautönen. Nicht so sehr das Abgebildete – die altmodische Kleidung, die altmodischen Gesichter – vermittelt einem das Gefühl von Zeit und Vergänglichkeit, es ist viel eher das lebendige Material, das gealtert ist wie die Stimme, die es kommentiert. Das ist schön.

Der Kompilationsfilm „Soul of a Century“ von Michael Kuball besteht aus privaten Filmaufnahmen, die 39 deutsche, britische und französische Film-Amateure zwischen 1900 und 1980 gemacht haben. Der größte Teil stammt aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 und wird von den Filmern oder denen, die dabei waren, kommentiert. Ob Kuballs Film als eine „Geschichte des privaten Glücks“ gelesen werden kann, wie es der Beipackzettel empfiehlt, darüber kann man lange nachdenken. Denn auch die friedlichen Szenen erzählen ja nicht in erster Linie vom Glück, sondern vom längst Vergangenen, das so seltsam und viel lebendiger, als es professionelle Aufnahmen könnten, in die Gegenwart ragt. Für eine „richtige“ Alltagsgeschichte als ernsthaftes Filmessay ist der Film mit seinen 112 Minuten aber viel zu kurz, dafür hält er sich auch zu sehr an die Vorgaben der großen Geschichtsschreibung, der die Zeit zwischen 33 und 45 – Nazis, Krieg, Pogrome, Lager, Judenvernichtung – weit wichtiger ist als etwa die Zeit zwischen 1955 und 1965; dafür war das private Filmen zumindest bis zur Einführung des Super-8-Films, der zur Weltwirtschaftskrise auf den Markt kam, auf zu kleine Kreise beschränkt; und dafür ignoriert Kuball zu sehr die nicht zu unterschätzende Rolle erotischer Aufnahmen im Amateurfilm.

Man will ja nicht meckern; es ist ja schön, sich die Bilder anzuschauen, die Unsicherheit der Abgefilmten vor dem neuen Medium zu beobachten; wie sie sich wie beim Fototermin zur Gruppe formieren, kleine Dramen aufführen oder als Pat und Pattachon herumlaufen, wie die Scheu alter Dienstboten vor der Kamera größer ist als die der Herrschaften. Es ist schön, in kleinen Sequenzen den alten Freud bei Maria Bonaparte in Paris zu sehen oder Marie Curie, wie sie Schlittschuh läuft. Manchmal ist man gerührt, wenn eine alte Frau sagt: „Da war ich so stolz wie eine Nadel“, manchmal ist der Film wie das Blättern in einem Fotoalbum, das man beim Trödler fand. Bilder von HJ-Ausflügen, ein Mädchen überreicht dem Führer einen Blumenstrauß, jüdische Emigranten auf einem Schiff, jüdische Siedler, die einen Zaun bauen um ihr neues Grundstück in Israel, auf der Pforte ein Davidsstern, Kriegsheimkehrer, die zurück in Magdeburg „Rot Front, England!, Rotfront Frankreich!“ rufen und seltsamerweise die Sowjetunion vergessen. Nach dem Krieg gibt es private Amateurfilmklubs, deren Mitglieder sich auf ihren Drehbuchkonferenzen gerne streiten und dies in aller Frische filmen, und am Ende wieder, zum erleichterten Ausklang, psychedelische Hippies, aufgenommen von Maomi Neven Dumont. DETLEF KUHLBRODT

„Soul of a Century“, von Michael Kuball, Deutschland 2001, 112 Minuten