Integration und Toleranz

Wenn das Bundesverwaltungsgericht heute das Tragen eines Kopftuches für eine Lehrerin zulassen würde, verbesserte es die Situation von Musliminnen erheblich

Eine Pro-Kopftuch-Entscheidung würde die Integration von Muslimen in Deutschland begünstigen

Seit 1998 beschäftigt ein Kopftuch die Gerichte und Medien. Denn damals entschied Baden-Württembergs Kultusministerin Annette Schavan, dass Fereshta Ludin nicht mit einem Tuch um den Kopf als Grundschullehrerin in Stuttgart unterrichten darf. Schavan postulierte, dass die muslimische Kopfbedeckung an der Schule ein unzulässiges Symbol sei und Frau Ludin nicht geeignet für den Staatsdienst, da sie „darauf besteht, das Kopftuch im Unterricht zu tragen“. Ob sie sich schon dadurch für Edmund Stoibers Kompetenzteam qualifiziert hat? Wahrscheinlich. Heute jedenfalls entscheidet das Bundesverwaltungsgericht in Berlin, ob dieses Verbot rechtens ist.

Das Kopftuch ist derweil zum Symbol in der Debatte um die Integration von Muslimen in Deutschland geworden – und zwar zu einem äußerst negativen: Kopftuch gleich Bedrohung der Frau gleich Gefahr für die Demokratie durch Fundamentalismus. Dabei wird gerne vergessen, dass unter dem Tuch eine Frau steckt. Diese Muslimin kann nämlich durchaus eine emanzipierte Frau sein, die sich in die bundesdeutsche Gesellschaft integrieren will – gerade wenn sie eine Karriere als Lehrerin anstrebt.

In der Debatte um das Kopftuch geht es zugleich um Spannungen und Spaltungen im zunehmend ethnisch und religiös vielfältigen Deutschland. Bislang sind diese Konflikte zugunsten der christlichen Mehrheitsreligion aufgelöst worden. Religionsfreiheit und Toleranz verpflichten jedoch gerade die Mehrheit, tolerant gegenüber der Minderheit zu sein. Die deutsche Gesellschaft kann sich nicht mehr allein aus einer christlich-jüdischen Tradition heraus betrachten, sondern muss sich mit ihrer heterogenen und insbesondere auch muslimischen geprägten Wirklichkeit auseinander setzen. Rechtlich wird die Auseinandersetzung vor allem von Neutralitätsgebot, Religionsfreiheit und der Gleichberechtigung bestimmt.

In der Schule ist der Staat durch die Verfassung zu religiöser Neutralität verpflichtet. Er darf die Schüler nicht gegen ihren Willen mit religiösen Symbolen konfrontieren. Deshalb haben Gerichte bislang Lehrerinnen das Tragen eines Kopftuchs verboten: Als demonstrativ religiöses Bekenntnis verletze es die Neutralitätspflicht. Diese Schlussfolgerung ist jedoch falsch. Die Neutralitätspflicht verbietet Lehrern nämlich nicht, sich mit religiösen Symbolen zu schmücken – lediglich der Staat selbst darf keine religiösen Symbole in Klassenzimmern aufhängen. So hat es das Bundesverfassungsgericht 1995 beschlossen, als es Kruzifixe aus bayerischen Klassenzimmern verbannte. Daraus ist aber keineswegs ein Verbot für Lehrerinnen mit Kopftüchern abzuleiten. Die Lehrerin ist eben kein vom Staat verwendetes Symbol: Sie ist vielmehr eine Bürgerin, die Religionsfreiheit beanspruchen kann.

Dieser Religionsfreiheit der Lehrerin sind in der Schule natürlich Grenzen gesetzt. So darf sie nicht missionieren. Nur: Das Kopftuch an sich kann man nicht als Ausdruck missionarischen Tuns beschreiben, denn die Lehrerin wirkt in der Schule ja weniger durch ihre Kleidung als vor allem durch ihr Reden und Handeln. Dass sie mit dem Kopftuch den Islam in der Schule sichtbar macht, ist erlaubt. Trotz der Neutralitätspflicht darf jeder in der Schule seine Religion ausüben: So können Lehrer auch christliche Kreuze sichtbar um den Hals tragen. Die Pflicht zur Neutralität gebietet es allerdings, dass alle Religionen an der Schule gleich behandelt werden. Der Islam darf nicht einseitig ausgeschlossen und dementsprechend das Tragen eines Kopftuchs nicht verboten werden.

Problematischer ist tatsächlich, dass das Kopftuch Symbol der Frauenunterdrückung ist. Es erinnert Betrachter nicht zu Unrecht an die patriarchalen Gesellschaften in Ländern wie Iran oder Saudi-Arabien. Dort haben Frauen kaum Rechte und werden sogar zur Kopf- und Körperverschleierung gezwungen. In Deutschland dagegen sind Männer und Frauen gemäß der Verfassung gleichberechtigt. Der Staat ist dazu verpflichtet, diese Gleichberechtigung wirksam zu fördern. Eine Lehrerin hat demnach auch die Aufgabe, die Schülerinnen zur Emanzipation zu erziehen – und das gilt selbstverständlich bei christlichen wie bei muslimischen Schülerinnen. Das Kopftuch macht die Lehrerin bei dieser Aufgabe nicht unbedingt glaubwürdig. Verstößt sie aber deshalb gleich gegen das Grundgesetz?

Kopftuchbefürworterinnen würden dem entgegnen, dass auch in Deutschland Frauen noch keineswegs gleichberechtigt seien. So verdienen sie immer noch weniger als Männer in den gleichen Berufen, um nur ein Beispiel zu nennen. Das stimmt leider – ist aber kein Argument für das Kopftuch. Denn: Grundrechte gelten eben auch dann, wenn sie in der Praxis verletzt werden.

Gleichberechtigung jedoch bedeutet vor allem, faktische Nachteile für Frauen auszugleichen. Musliminnen mit Kopftuch nicht als Lehrerinnen anzustellen, verwehrt ihnen einen der wenigen Berufe, die ihnen derzeit offen stehen.

Wie schwer es muslimische Frauen haben können, zeigt ein Fall aus Hessen: Dort urteilte 2001 ein Gericht, dass die Kündigung einer Verkäuferin wegen ihres Kopftuchs rechtmäßig sei, da es nicht dem „Stil des Hauses“ in der Kleinstadt entspreche. Gerade wegen solcher Diskriminierungen wäre eine Lehrerin mit Kopftuch ein klares Zeichen für den privaten Arbeitsmarkt. Seht her, würde der Staat zeigen, ein Kopftuch ist keineswegs außerordentlich fremdländisch, sondern eine in Deutschland übliche Kleidung.

Das Kopftuch an sich kann man nichtals Ausdruck missionarischen Tunsbeschreiben

Zudem würde der Staat muslimische Frauen nicht schlechter behandeln als muslimische Männer: Diese trifft nämlich keine Kleidervorschrift, die einer Einstellung in den Staatsdienst entgegenstünde. Eine Lehrerin mit Kopftuch würde die Situation von Musliminnen in Deutschland erheblich verbessern.

Entscheidet sich das Bundesverwaltungsgericht am Donnerstag für das Kopftuch, so würde es zudem die Integration von Muslimen in Deutschland begünstigen. Das friedliche Zusammenleben von verschiedenen religiösen und nichtreligiösen Menschen kann in einer pluralistischen Gesellschaft dauerhaft nur dann gesichert werden, wenn alle gleichberechtigt am demokratischen Prozess teilhaben können. Dazu ist es nötig, dass sie dieselben Möglichkeiten haben, ihre kulturell-religiösen Gewohnheiten auszuleben. Der Lehrerin mit Kopftuch kommt insofern eine besondere Bedeutung zu. Das Bundesverfassungsgericht hat zu Recht die Schule als Ort definiert, an dem „die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft tradiert und erneuert werden“. Die Sichtbarkeit des Islam an der Schule garantiert, dass die Schüler in Zukunft auch ihn als wesentlichen Bestandteil der heutigen Gesellschaft wahrnehmen. In diesem Sinne haben die Karlsruher Richter bereits im Januar 2002 ein weithin beachtetes positives Signal für die religiöse Gleichberechtigung von Muslimen gesetzt: Sie haben entschieden, dass Schächten verfassungskonform ist.

KIRSTEN WIESE