Zersägte Kulissen

Unter Udo Zimmermann probte die Deutsche Oper Berlin den Aufbruch in die Moderne. Ein Resümée

von FRIEDER REININGHAUS

An der Deutschen Oper Berlin soll noch einmal die Moderne auf den Prüfstand. Nach dem Tod von Götz Friedrich, der das Haus an der Bismarckstraße zwei Jahrzehnte so stark prägte, übernahm 2001 der Dresdner Komponist Udo Zimmermann, zuvor Intendant in Leipzig, das Steuer des renommierten Unternehmens, das man bis dahin als Flaggschiff des westdeutschen Musiktheaters angesehen hatte. Viel und Großes versprach der noch vom CDU-Kultursenator Radunski eingekaufte und aufgepumpte Parteigänger Zimmermann. Und ankündigen kann er wirklich mit sächsischer Eloquenz („sich positionieren“ und „Zeichen setzen“ sind seine begrifflichen Lieblingskinder). Entsprechend hoch hingen die Erwartungen hinsichtlich Zeichen und Positionen.

Mit der Auftaktinszenierung wurden sie zunächst auch teilweise erfüllt. Peter Konwitschny privatisierte Luigi Nonos „Intolleranza“ (1961). Er zeigte diesen Modellversuch einer politischen und zugleich ästhetisch avancierten Oper als eine weithin private Geschichte: ein Emigrantenschicksal in einer angedeuteten Hochbaukonstruktion, der die fleißige Arbeiterklasse abhanden kam; unterm Stahlgitterwerk aber kommt nun sehr dekorativ jenem gebeutelten Mann eine neue Lebensabschnittspartnerin ins Bett. Auf die ménage à trois mit der früheren Frau und einem Fläschchen Schampus folgt das offene Ende. Nonos Engagement erschien zur weitestgehenden Unverbindlichkeit entbunden. So konnten auch die Charlottenburger Pelzmäuse den garstigen Nono goutieren. Ein Zeichen dafür, dass nun endlich zusammenwächst, was zusammengehört.

Erst recht kamen dann moderat moderne Sehgewohnheiten bei der szenischen Aufbereitung von Giuseppe Verdis „Messa da requiem“ zu ihrem vermeintlichen Recht. Der Ausstatter Achim Freyer versammelte abermals sein seit Jahrzehnten bewährtes Arsenal allegorischer und theaterfantastischer Figuren, kontrapunktierte damit die an dramatischen Erfahrungen reiche geistliche Musik und verweigerte doch, aus dem Geist einer gegenüber aller klassischen Dramatik skeptischen Moderne, traditionelle „Oper“.

Dies tat dann Christoph Nel – gestützt auf einen polemisch zurechtgestutzten „Fidelio“ – mit teutonischer Gründlichkeit. Da er Georg Friedrich Treitschkes Text für bloße Ideologie erachtet, betrieb er ohne Rücksicht auf Verluste die Psychologisierung des Schreckens- und Freiheitsstücks: eine Zwangspsychiatrisierung der Protagonisten, welche die von der Ehefrau ins Werk gesetzte Gefangenenbefreiung zum eigentlich traumatischen Akt uminterpretierte. Durch den von Intendant Zimmermann am Dirigentenpult positionierten, vor Ort aber heillos überforderten Cellisten Heinrich Schiff geriet die Beethoven-Premiere an den Rand des Absturzes. Sie wurde von tumultuarischen Missfallensbekundungen gerahmt. Zimmermann verteidigte den Inszenierungsmurks und versprach eine überarbeitete Neuauflage, ließ aber inzwischen die Kulissen zersägen. So setzt man Zeichen in Berlin!

Zwischen den entschieden modern gemeinten Hauptgängen servierte die Charlottenburger Opernhalle auch leichtere Mischkost. Der Wiener Hofschauspieler Sven-Eric Bechtolf durfte mit einer krausen Mischfassung von „Hoffmanns Erzählungen“ plaudern: Jacques Offenbachs späte Oper wurde mit krass überdeutlichen Bildsymbolen durch die unterschiedlichsten Zeitzonen und geografischen Regionen getrieben. Rings um einen übermäßig vergrößerten Geigenkasten nippte die aufgepopte Produktion vom kühlen Charme der Goldenen Zwanziger und stattete einem von Hans Neuenfels inspirierten Fantasialand eine Stippvisite ab: Regietheater aus dritter Hand mit viel Unzulänglichkeiten beim singenden Personal. Stadttheater von gestern. Etwas besser wurde das Angebot mit der von Karl-Ernst und Ursel Herrmann servierten „Medée“ von Luigi Cherubini: stille Einfalt und edle Größe des Klassizistischen. Jano Tamar wuchs nach und nach in der Titelpartie und so auch ein wenig wieder der mittlerweile drastisch abgesackte Kurswert des Hauses. Vor dreißig Jahren vielleicht wäre die Arbeit der Herrmanns als zeitgemäß erschienen.

Als letzte und wohl wichtigste Produktion, mit der sich Zimmermann in seiner Berliner Auftaktspielzeit „positionieren“ wollte, das große katholische Bekenntnisoratorium „Saint François d’Assise“ von Olivier Messiaen, dekoriert von einem in Berlin beliebten Architekten und Gartengestalter. Noch einmal gewaltiger Ton eines toten großen alten Mannes der Neuen Musik: Mit Menschen- und mit Engelszungen werden die Lehren und der letzte, geläuterte Lebensabschnitt des Franz von Assisi gepriesen, die Solidarität des Klosterlebens und die allerhöchste Gnade. Dank der umsichtigen Leitung von Marc Albrecht spannt sich der große Bogen der Musik in aller Ruhe und Farbenpracht aus. Messiaens Werk mag auch Menschen in Bann schlagen, die mit seiner Botschaft nichts anzufangen wissen.

Zu den Erbschaften der Moderne des 20. Jahrhunderts gehört das Faszinosum der Beziehungslosigkeit. Daniel Libeskind entwarf für die Franziskus-Szenen eine Bühneninstallation, die mit Text, Handlung, Musik vorsätzlich nichts zu schaffen hat. Vor Jahren konstruierte er eine Architecture Writing Machine als Kunstobjekt für die Biennale in Venedig. Die wurde jetzt recycelt: ein Feld von kubikmetergroßen Würfeln in Drehvorrichtungen – sieben mal sieben dunkle Blöcke, deren eine Seite jeweils mit geometrischen Figuren bestückt ist, eine andere mit Modellhäuschen, eine dritte (wie bei Druckplatten) mit spiegelverkehrten Namen von Heiligen; die letzte der vorzeigbaren Flächen aber blieb jeweils leer. Was da theoretisch gemeint war als optische Antithese zu Messiaens missionarisch überwältigender Musik, ist nach wenigen Minuten evident, der eine optische „Einfall“ aber trägt beileibe keine fünf Stunden.

Es wurde versucht, nacheinander verschiedene Regisseure mit dem Würfelzauberer Libeskind zusammenzuspannen. Der aber lässt sich nicht in den Dienst am Gemeinschaftsunternehmen Oper nehmen. So durften am Ende die Figuren nach Laienspielart auf einem Schnittmuster trippeln und trappeln, segnen und beten. Das war fast alles gut gemeint, aber reif für Oberammergau.

Die Geschäftsführung der Deutschen Oper hat die Kurve des Aktienmarkts im letzten Jahr getreu nachgezeichnet. Der Unterschied: Man kann nicht ausschließen, dass die Börsen sich aus eigener Kraft erholen.