ulrike herrmann über Non-Profit
: Unglück ist ja so sinnlos

Wer ist ein Versager? Einer, der es nicht schafft – oder reicht es, sich wie einer zu fühlen? Eine kleine Mutprobe

Sie sieht interessant aus. Ihr Haar ist dicht gelockt, ein Kastanienbraun, das rötlich schimmert. Bestimmt nicht gefärbt, denke ich, obwohl es so aussieht. Und ihr Mund erklärt mir, was der Ausdruck Schmollmund meint. Das darf ich nicht denken, denke ich, Schmollmund, das ist ja frauenfeindlich.

Und wahrscheinlich hätte mein Denken meinem Denken gehorcht, wäre ein Tisch frei gewesen. Aber die Kneipe ist überfüllt mit Menschen, die alle so stimmig aussehen wie sie. Soll ich gehen? Aber das wäre ja feige. Also setze ich mich zu ihr. Lächele so herausfordernd freundlich, dass ich mir dämlich vorkomme.

Sie sieht es und wendet sich ab, sieht dem Obdachlosen zu, der doch eigentlich wissen muss, dass er und seine Obdachlosenzeitung hier keine Chance haben. Und da ist auch schon der energische Kellner, der ihn wieder hinter die schwarzen Vorhänge drängt. Dieser geteilte Filz, kunstvoll gefaltet, macht die Eingangstür zur Bühne. Wer hier hereinkommt, muss sich bewegen wie ein Star.

„Wie viele Versager kennen Sie?“

Hat sie etwa mit mir gesprochen? Irgendwie scheint es so, denn sie blickt nicht mehr auf den Bühneneingang, sondern auf die Kerze zwischen uns.

Versager? Gibt es überhaupt Versager? Versagt nicht die Gesellschaft? Offenbar sehe ich so aus wie meine Gedanken, denn sie redet einfach weiter.

„Nicht normale Versager wie der Obdachlose. Sondern Versager mit Abitur. Versager, die überall sind und die trotzdem niemand sieht.“

Klingt wie das Synonym von Nieten in Nadelstreifen. Aber sie scheint es ernst zu meinen, schlägt ein Spiel vor.

„Ich frage, Sie antworten.“

O.k. Kann ja nicht schaden.

„Es zählen aber nur Leute, die zwischen 30 und 45 Jahre alt sind.“

O.k.

„Wie viele von Ihren Bekannten haben Selbstmord begangen?“

Ich habe mir diese Frage nie gestellt, nie summiert, aber ich weiß es sofort.

„Drei.“

Ich bin überrascht, dass ich antworte. Es muss an ihr liegen, an ihrer distanzierten Sachlichkeit, die diese Frage so stellt, als sei sie nur Statistik. Aber ich werde nicht noch mehr sagen! Ich werde nicht erzählen, wie die Freundschaften schon Monate, ja Jahre vor dem Freitod stockten, wie wir uns nicht mehr verstanden, nicht mehr miteinander sprechen konnten. Ich kannte nicht alle drei gleich gut, aber gut genug, dass ich ihr Ende hätte ahnen können. Wie auch viele andere es hätten vorher sehen müssen.

Aber das will sie gar nicht wissen.

„Und wie viele kennen Sie, die im Beruf versagt haben?“

Immer dieses Versagen. Wer ist ein Versager? Nur die offiziell anerkannten? Die sich nicht in ihren Wunschberuf getraut haben, die arbeitslos sind oder denen gekündigt wurde? Die sich gar nicht erst bei den Abiturjubiläen melden? Oder sind es auch jene, die sich wie Versager fühlen? Oder die – noch abstrakter – sich vor dem Versagen fürchten? Dann sind es wahrscheinlich sehr viele.

„Sie antworten nicht. Das ist in Ordnung.“

Ja.

„Eine letzte Frage: Wie viele sind geschieden oder getrennt?“

Keine Ahnung, könnte ich zwar zählen, will ich aber gar nicht. Wir sehen beide in die Kerze zwischen uns. Da ändert sie das Spiel.

„Ich habe das Gefühl, dass ich dran bin.“ Dieses Gefühl habe ich auch.

„Unglück ist so sinnlos, aber man kommt nicht dagegen an.“

Eine Binse hat den Vorteil, stets wahr zu sein. Sinnloses Unglück, wer kann da nicht erzählen. Doch muss ich gar nichts sagen, gar nichts gestehen, sie redet schon weiter.

„Zum Beispiel kenne ich jemanden, der Karriere macht. Ganz erstaunlich. Aber trotzdem hat er immer Angst, krank zu sein. Das hängt wahrscheinlich zusammen.“

Ich nicke, was soll ich sonst tun, und wir blicken in die Kerze.

„Zum Beispiel“, das wirkt wie abgerungen, „fürchtet er, dass sein Körper versagen könnte, dass er einen Herzinfarkt bekommt.“

Warum geht er dann nicht zum Arzt, will ich fragen.

„Aber er weiß, dass es eingebildet ist.“

Ist doch schon viel, dass er darüber redet, will ich trösten.

Da steht sie auf und geht.

„Ich habe von mir gesprochen.“

Es klingt triumphierend. Als hätte sie eine Mutprobe bestanden.

Ich hätte sie gern zurückgehalten. Aber da schließt sich schon der schwarze Filz hinter ihren braunen Locken, die rot schimmern.

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