Ein Lob des Klüngelns

Köln ist das lebenslustigste Dorf der Republik – und kann nur so überschaubar sein, weil es sich als Stadt ausgibt. Eine, die die urbane Tugend der freundschaftlichen Mit- und Absprache kultiviert hat wie keine sonst. Eine Plädoyer für Gerechtigkeit, Solidarität und Geborgenheit

von KLAUS HILLENBRAND

Karneval, Kölsch und Klüngel – bei diesem Dreigestirn vom Rhein beherrscht der letztere Begriff in diesem Jahr die Debatte mehr, als vielen Kölnern lieb ist. Denn Klüngel ist nicht länger ein Teil kölscher Folklore, also eine eigenartige, aber doch liebenswerte Eigenschaft, bei der der eine dem anderen freundlich behilflich ist, also quasi eine besondere Form sozialen Verhaltens.

Klüngel ist Korruption! Klüngel zwingt die traditionsreichen rheinischen Sozialdemokraten zur Zahlung von Hunderttausenden Euro Strafe, bringt verdiente Kommunalpolitiker, altgediente Stadtbedienstete und ehrenwerte Vertreter kommunaler Spitzenverbände in bittere Erklärungsnot. Der Klüngel hat hoffungsvolle Karrieren zunichte gemacht, kinderreichen Familien Lohn und Brot genommen, die Festen der Stadt erschüttert. Nie wieder Klüngel!

Allet Stuss. Kölscher Klüngel lebt wie eh und je. Natürlich ist nicht er verantwortlich für bedauernswerte Rücktritte, haushohe Strafbefehle und unangenehme Haftaufenthalte – Auswüchse, die mit Klüngeln kaum mehr etwas gemein haben! Nä, nä, et is, wie et is. Äwer et hätt noch immer jot jejange.

Der Begriff Klüngel entstand etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts, was freilich nicht heißt, dass es vorher keine Klüngelei gegeben hätte. Es bedeutet, alles in allem, so viel wie Knäuel, Zwirnknäuel oder Fadenknäuel.

Über das, was Klüngeln eigentlich ist, gehen die Definitionen weit auseinander – nämlich zwischen denen, die daran teilhaben dürfen, und jenen, die schmählich ausgeschlossen bleiben. Letztere malen ein düsteres Bild der Korruption: „Eine Hand wäscht die andere zu Ungunsten eines Dritten“, hat der ehemalige Kölner Regierungspräsident Franz-Josef Antwerpes das System genannt. Doch der ist kein Kölner.

„Vorteilsnahme durch Cliquen“, schreibt Erwin K. Scheuch erbarmungslos. Ein Soziologe. „So is dat bei uns, mer kennt sisch, un mer hilf sisch“, definierte da wesentlich lebensfroher der frühere Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer die Klüngelei. Es geht also um das „Ausräumen von Schwierigkeiten im Vorfeld von Entscheidungen. Klüngel darf niemandem schaden, aber möglichst vielen nützen.“ Sprach der verdiente Exoberbürgermeister Norbert Burger. Moment: Das Burger-Zitat lassen wir besser weg: Der Mann soll beim Waschen illegaler Spenden geholfen haben. Bedauerlicher Einzelfall.

Also, wenn Sie künftig mitklüngeln wollen, merken Sie sich Folgendes: Zum Klüngel (hier abgekürzt: K) gehören in jedem Fall mehrere Personen, die vorzugsweise kommunalpolitisch tätig sind. Die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Parteien ist, anders als etwa bei der Vetternwirtschaft, keinerlei Hinderungsgrund. Im Gegenteil: Möglichst jeder sollte vom K profitieren.

Denn K heißt integrieren: Die wichtigen Dezernentenposten werden in Köln traditionsgemäß zwischen den Parteien paritätisch aufgeteilt. Oder: Ein schöner Geschäftsführerposten für die CDU, ein gut dotierter Job als Hauptgeschäftsführer für die SPD. Sie glauben ja gar nicht, wie viele Eigenbetriebe so eine Millionenstadt ihr Eigen nennt. Aber: Vergessen Sie niemanden.

Und: Machen Sie das schriftlich aus, so wie Klaus Heugel (SPD) und Peter Winkler (FDP) das 1979 getan haben. Dessen vorbildlicher K sah die exakte Aufteilung gleich vierzehn hoher Posten bei Stadtverwaltung und städtischen Unternehmen zwischen SPD und FDP vor. Halten Sie sich in jedem Fall an den K. In letzterem Fall lief die Vereinbarung zwischen SPD und FDP auch noch weiter, als die Freidemokraten längst aus dem Stadtrat geflogen waren.

Sorgen Sie dafür, dass die Gehälter angemessen bleiben. Nachahmenswert ist da eine traute Viererrunde aus SPD und CDU, die in den Achtzigerjahren ihren Leuten bei den Stadtwerken eine kleine Gehaltserhöhung von 25.000 Mark zubilligte.

Mit innerparteilichen Gegnern verfahren Sie ähnlich: Geben Sie Ihnen Posten, bis es kracht. Aber achten Sie darauf, dass Sie die Mehrheit behalten. Und begünstigen Sie Ihre wahren Freunde im Wahlkampf mit Zuschüssen aus der schwarzen Fraktionskasse. Das erhöht die Dankbarkeit. Jedoch: Nicht jeder muss die Einzelheiten kennen. Dat bliev unger uns!

Vor allen Dingen darf eines nie außer Acht gelassen werden: Seien Sie großzügig. Ihre Gefälligkeit wird erwidert werden, morgen oder in fünf Jahren.

So erreicht der Klüngel, dass alle, die daran beteiligt sind, einen schönen Vorteil davon haben. Außerdem erspart er völlig unnötige Streitereien, die kein gutes Bild von der Stadt und ihren Vertretern abgeben würden. Mer kenne uns, mer verstonn uns! Und allet zum Wohle von uns Kölle!

Zudem verdankt Köln dem Klüngel so manche Sehenswürdigkeit. Zugegeben, die neue Müllverbrennungsanlage in Niehl zählt nicht unbedingt dazu. Aber denken wir nur an die Mülheimer Brücke: Einer schnöden Bogenbrücke hatten die Preisrichter im Jahre 1926 den Vorzug gegeben, die ohne Klüngel dort heute zweifellos den Rhein verschandeln würde. Mit Klüngel und Konrad Adenauer wurde es dann aber doch die schöne Hängebrücke.

Der spätere Bundeskanzler ließ zunächst Gerüchte über gefährliche Bodenverhältnisse lancieren, dementierte anschließend, sie jemals in die Welt gesetzt zu haben (aber die Geschichte lief weiter herum) und überzeugte später die Kommunisten im Stadtrat mit seiner Begeisterung für die Brücke von Leningrad – auch eine Hängebrücke.

Das Ergebnis: ein neuer Ratsbeschluss, ein neues Preisgericht und eine Hängebrücke, die zufälligerweise ein Kölner entworfen hatte und deren Kabel eine Kölner Firma herstellen durfte. Dass die Hängebrücke etwas teurer wurde als die ursprünglich favorisierte Bogenbrücke, interessiert heute keinen Menschen mehr. Die Brücke sieht gut aus. Zwar nicht so bekannt wie der Dom, aber doch sehr hübsch. En janz jroßet Wahrzeischen!

Nachteile gibt es bei der Klüngelei eigentlich keine, abgesehen vom öffentlichen Haushalt, der möglicherweise ein ganz klein wenig mehr als unbedingt notwendig belastet wird – aber was ist das schon im Vergleich zu Ruhe und Wohlstand? Demokratisch ist der Klüngel sowieso, weil doch alle demokratisch gewählten Parteien daran teilhaben dürfen. Und außerdem erfährt es doch keiner. Ich weiß vun jar nix!

Nicht zu unterschätzen sind schließlich die psychologischen Vorteile des Klüngelns. Da es dauernd neue Absprachen verlangt, weil ständig neue und alte Posten zu besetzen sind, werden so soziale Bindungen verstärkt, ja langjährige Freundschaften begründet. Absprachen stärken diese Sozialkontakte. Dabei von Abhängigkeiten zu sprechen, darauf kann nur ein Nichtkölner kommen. Mer kenne uns, mer helfe uns.

Die regionale Wirtschaft schließlich profitiert nachhaltig vom Klüngeln. Ist es doch nur logisch, dass bei der Auftragsvergabe von Kinderschaukeln, U-Bahn-Schächten oder Müllverbrennungsanlagen diejenigen bevorzugt werden, die in Köln und Umgebung ansässig sind. Denn sie bieten nicht nur die schönsten, leider manchmal geringstfügig teureren Baupläne an. Die örtlichen Unternehmer kennen auch den Dingens von den Stadtwerken und die Dingens von den Verkehrsbetrieben. Wer sich aber gut kennt, arbeitet besser zusammen. Zum Wohle der Stadt natürlich. Und sollte irgendwann mal ein Pöstchen in der Firma frei werden, ja dann … Köbes, noch en Kölsch!

Lebensfreude und Geselligkeit sind notwendige Voraussetzung für eine gut geölte Klüngelwirtschaft. Deshalb ist es kein Wunder, dass gerade Köln, diese katholische Hochburg des Schunkelns und der Funkemariechen, auch zum Klüngelzentrum Deutschlands geworden ist, in weitem Abstand gefolgt von Bonn. Zudem verfügt die Stadt über ein enges soziales Beziehungsgeflecht: Köln hat zwar rund eine Million Einwohner. Das Leben spielt sich dennoch weitgehend fußläufig rund um den Dom ab. Wer nicht gerade in Godorf oder Porz-Wahn lebt – und wer will das schon? –, hat’s nicht weit bis zum nächsten Klüngler. So kennt hier jeder eigentlich jeden.

Genau das ist eine weitere wichtige Voraussetzung: Parallel existierende Sozialsysteme würden die Klüngelei derart verkomplizieren, dass am Ende niemand mehr durchblickt, wer denn wem was wofür und wann wohlgetan hat. Berlin ist so ein Beispiel, wie es nicht funktioniert. Diese Ausgeburt protestantischer Enthaltsamkeit auf Sandboden kann zwar dank ausgeklügelter Vetternwirtschaft zwischen CDU und Banken stolz auf Milliardenlöcher im Haushalt verweisen. Mit Klüngeln hat dies indes nichts zu tun, war doch nicht einmal die SPD darin eingeweiht.

Und wenn beim Klüngeln, wie in seltensten Fällen, doch etwas bekannt wird, weil fiese Zeitungsschreiber etwas aufgeschnappt haben? Richtig geklüngelt, passiert gar nichts, denn wer sollte schon Konsequenzen ziehen, wenn er, sie und alle anderen von diesem dankbaren Netzwerk nur profitieren? Die Klüngelei um den Bau des neuen Müngersdorfer Stadions stand in allen Zeitungen – ohne größere Konsequenzen.

Der Klüngel von SPD-Ratsherr Klaus Heugel mit der FDP ward bekannt, doch der Mann fiel nicht etwa die Karriereleiter hinab, sondern hinauf: Er avancierte zum Oberbürgermeisterkandidaten.

Dass Heugel später in einer spektakulären Aktion kurz vor der Kommunalwahl 1999 zurücktreten musste, hat er sich selbst zuzuschreiben. Einfach zu blöde geklüngelt! Missachtet die erste Regel: Do hammer all jet von! Anstatt mit seinem Insiderwissen über eine gewisse Aktiengesellschaft dem ganzen, wenigstens halben Klüngel zu mehr Wohlstand zu verhelfen, hatte er alleine zugegriffen und so fünfzehntausend Mark ergattert. Bei so vielen Neidern musste das herauskommen.

Ganz ähnlich scheint es sich, soweit es bisher bekannt ist, mit den Müllgeschäften zu verhalten, die erst jüngst fünfzig verdienten Klünglern zu intimen Kenntnissen regionaler Justizvollzugsanstalten verhalfen. Direkt beteiligt an dem guten Geschäft um gut zwanzig Millionen Mark Schmiergeld waren die Firmen Steinmüller (Anlagebauer, wollte bauen), Trienekens (Müllunternehmer, wollte betreiben), Karl Wienand (SPD, undurchsichtiger Berater von Steinmüller und Trienekens), Ulrich Eisermann (Beamter, SPD, wollte Geld) und Norbert Rüther (SPD-Fraktionschef, wollte angeblich Geld von Eisermann) sowie, vermutlich, eine Reihe weiterer Begünstigter und Mitwisser.

Die Sozialdemokraten profitierten offenbar davon, dass Rüther weitere „Dankeschönspenden“ an die Partei reichte und mittels vieler kleiner gefälschter Spendenquittungen legalisierte. Doch keine Spur von CDU, FDP, Grünen. Gut, Trienekens war Mandant des Anwalts Rolf Bietmann, zufällig dann Chef der CDU-Rathausfraktion und im Übrigen vollkommen unwissend. Und sonst? Fehlanzeige! Wer so gierig ist, alles alleine einstecken zu wollen, braucht sich nicht zu beklagen, dass andere misstrauisch werden. So jeht dat äwwer nit!

Im Übrigen: Bei dem Geschäft ging es um lächerliche 3 Prozent der gesamten Projektsumme! Ein Klacks. Und bezahlt und kassiert ist sowieso schon längst. Außerdem liegt das ganze Jahre zurück. Und deswegen regt sich die ganze Republik auf? Ist es nicht viel eher eine gewisse Kölnfeindlichkeit, die sich da ungebremst breit machen darf?

Dennoch: Diese infame Form des Primitivklüngelns hat nicht nur das Klüngeln an sich völlig unberechtigterweise in üblen Veruf gebracht, nein, die ganze Stadt Köln und ihre unschuldigen Einwohner gelten plötzlich als korrupt und werden bundesweit an den Pranger gestellt. Wie soll man da noch Geschäfte machen? Solche Falschklüngler gehören nicht nur aus der SPD ausgeschlossen, was ja fast schon eine Belohnung ist. Da sollten wegen Klüngelverunglimpfung härteste Strafen her. Die Kölner Geschichte bietet ein sehr gutes Beispiel dafür.

Damals, Ende des Jahres 1512, hatten die Ratsherren bei der Verfolgung missliebiger Steinmetze nicht nur, indem sie diese aus dem Schoß des Stiftes St. Maria entführten, die Immunität der Kirche verletzt. Zudem wurde auf geheimen Sitzungen ausgeklüngelt, was nicht unbedingt zum Wohle der Stadt war. Eine Gegenregierung nebst blutigen Unruhen sorgte dafür, dass zehn Ratsherren, unter ihnen die Bürgermeister Johann Reidt und Johann Oldendorp, in den Tod befördert wurden. Man hat sie auf dem Heumarkt öffentlich enthauptet.

Die Vorwürfe waren auch zu arg: „Überbürdung der Bürger durch ungewöhnlich hohe Steuern und Accisen, Weigerung der Rechnungslegung von seiten der städtischen Verwaltung, Umtriebe bei der Wahl der Ratsherren, Bestechungen, Veruntreuungen des städtischen Gutes, gewaltsame Angriffe auf kölnische Bürger“ – so der Stadthistoriker Gottfried Eckertz 1876.

Eine neue Gesetzessammlung trat am 13. Dezember 1513 in Kraft. Verboten waren fürderhin unter anderem geheime Ratssitzungen und interne Vorgespräche. In Zukunft habe man „allezeit in offenbarem Rat einträchtig beieinanderzusitzen und ratzuschlagen“.

Glücklicherweise ist der Transfixbrief aus dem Jahre 1513 schon längere Zeit nicht mehr in Gebrauch. Et kütt, wie et kütt.

KLAUS HILLENBRAND, 1957 im Sauerland zur Welt gekommen, heute Chef vom Dienst der taz in Berlin, lernte Köln in seiner Jugend- und Studentenzeit kennen und lieben. Dort fiel er auch vom Protestantismus ab