Eine Gedichtsstunde

Hinterm Reichstag liegt der Strand: Die türkische Sängerin Sertab Erener verjagte den Regen von der Museumsinsel und zeigte sich klassikfest

von DANIEL BAX

Zur Zugabe hatte sie eine besondere Pointe aufbewahrt: „Sah ein Knab’ ein Röslein stehen“, war nach wenigen Takten zu erkennen, vom Schlagzeuger mit kompaktem HipHop-Beat unterlegt.

Ausgerechnet Schubert! Aber es passte zum Ort, zur klassizistischen Museumsinsel. „Der deutschen Kunst“ prangt schließlich in goldenen Lettern über den Säulen der benachbarten Nationalgalerie. Und es passte zu Sertab Erener, als Ausweis ihrer klassischen Gesangsbildung, die sie an der Kunsthochschule in Istanbul genoss, bevor sie sich dort in den Neunzigern zum Popstartum aufschwang. Fast hätte sie sogar Deutsch gelernt. „Aber als es losging mit ‚der, die, das‘, habe ich’s gelassen“, gestand sie.

Verständnisvoll applaudierte da ihr Publikum, vertraut mit der Kniffligkeit der deutschen Sprache. Ein paar hundert waren gekommen, die türkische Sängerin zu sehen, und verstreuten sich über den Platz vor der Nationalgalerie, der durchaus mehr Menschen Raum geboten hätte. Das sorgte für betroffene Gesichter bei den Veranstaltern, einer deutschen Konzertagentur, die sich über Wochen alle Mühe gegeben hatte, ihr Publikum zielgerichtet anzusprechen, mit Werbung im türkischen Lokal-TV und flächendeckender Plakatierung in den zentralen Bezirken.

Doch eine Sängerin wie Sertab Erener, deren Alben sich in der Türkei durchaus millionfach verkaufen, spricht nicht zwangsläufig auch das türkische Publikum in Deutschland an: Ein Hauch höherer Tochter haftet ihr an, auch wenn sie sich gerne leger in Jeansjacke wirft. Einst sang sie im Background für Sezen Aksu, die Übermutter des türkischen Pop, aus deren Schatten sie vor zehn Jahren mit ihrem Albumdebüt „Sakin Ol“ trat. Seitdem hat sie selbst Mainstream-Erfolg, trotzdem gilt die 38-Jährige zu Hause eher als Intellektuelle denn als Massenidol und erinnert mit ihrem emanzipierten Image ein wenig an westliche Alternativstars wie Alanis Morissette oder Björk.

Von dieser hat sich Sertab Erener nicht nur die kecken Haarknoten abgeguckt, mit denen sie sich in Berlin zeigte. Und so war es denn auch eher ein studentisches und aufstrebendes Publikum, das zu ihrem Auftritt gefunden hatte und dem Sertab Erener trotz des kühlen Wetters ein professionelles Programm bot, das die ganze Bandbreite ihrer Talente auffächerte: Mal mit Rap-Einlage, mal mit A-Capella-Arien, mit einem ganzen Schwung von Hits und einer Reihe unbekannterer Stücke, mit denen sie an den anatolischen Rock der Siebziger erinnerte. Dazwischen setzte sie ruhigere Balladen und kokettierte charmant mit dem Publikum. „Wo bleiben die Jungs?“, fragte sie, als ein paar Mädchen, die den Text auswendig kannten, zaghaft den Gesang übernahmen. Da ertönte aus dem Publikum eine laute Opernstimme. Sertab Erener fühlte sich ertappt, klopfte sich auf die Schenkel und fragte nach dem Namen des Sängers, der mit „Hakan“ antwortete. Worauf sie, wieder zu den anderen gewandt, forderte: „Lauter. So wie Hakan.“

So hellte sie die des schlechten Wetters wegen gedrückte Stimmung auf und hielt den Regen von der Museumsinsel fern. Und spätestens als bei einer Ballade ihre Stimme, vom Echo verdoppelt, wie die Möwen über dem Bosporus klang, konnte man hinter der Bühne, hinter dem Reichstag, den Strand ahnen.