Hinter dem Besenwagen

Mit dem Start der Tour de France (ZDF, 15.30 Uhr) beginnt sie wieder, die Jagd der Reporter auf exklusive O-Töne der Favoriten. Ein Unterfangen, das bei manchem den Verdacht keimen lässt, er wäre besser zu Hause geblieben – ein Erfahrungsbericht

von SEBASTIAN MOLL

Seit Tagen versuche ich vom Führenden in der Gesamtwertung, Lance Armstrong, ein paar Statements zu bekommen. Eigentlich ein hoffnungsloses Unterfangen, denn das wollen die meisten der rund 1.000 Journalisten bei der Tour de France und deshalb lässt Armstrong es bei zwei Pressekonferenzen bewenden. Interviews bekommen nur die engsten Vertrauten. Doch das Jagdfieber, das einen bei der Tour de France, der dreiwöchigen Hatz nach ein paar Worten, die kein anderer hört, unweigerlich befällt, lässt mich nicht los. Morgen um Morgen postiere ich mich wieder vor Armstrongs Bus – er ist mit Leuchtband abgesperrt und wird von mehreren monströsen Bodybuildern bewacht.

Doch heute habe ich Glück. Es sind nur noch wenige Tage bis Paris, der Texaner hat den Sieg so gut wie sicher und ist gut gelaunt. Er reagiert auf lauten Zuruf und stellt sich, seine Leibwächter missachtend, zu mir und einem dänischen Kollegen. Wie im Fieber schießen wir eine Frage nach der anderen auf ihn ab. Der Tag ist gerettet, fröhlich kurve ich über die Schnellstraße durch das Limousin in Richtung des Zielortes Montlucon.

Andere Tage verlaufen weniger ertragreich. Die so genannten Königsetappen im Hochgebirge sind von Reportern nicht weniger gefürchtet als von den Fahrern. Schon am Morgen die bange Frage: Soll man in den Startort fahren oder besser doch nicht? Vielleicht ist das die einzige Chance, die ach so wertvollen O-Töne einzufangen. Doch da ist das Risiko, dann nicht mehr rechtzeitig ins Ziel zu kommen. Meist führt der Weg zum Schlussanstieg und auf den Gipfel durch ein schmales Tal. Zu Hunderttausenden tummeln sich dort schon am Vortag die Fans. Im Stau stehend versucht man sich einzubläuen: Bleib ruhig! Du wirst es schon schaffen. Doch vergebens, die Panik bricht immer wieder durch. Man hupt, man schreit, man rast, man überholt und flucht dabei auf die vermaledeiten Schlachtenbummler, die den Weg versperren – und schließlich nur zum Spaß hier rumlungern. Nur mit Glück kommt man noch rechtzeitig auf irgendeiner Almwiese im Pressezelt an, um die entscheidenden Minuten des Rennens zu verfolgen – im Fernsehen.

Nach dem Zieleinlauf ein neues Dilemma: rausrennen und ein paar belanglose Sätze des Siegers ergattern und dabei noch mehr unter Druck geraten? Oder einen Artikel ohne O-Töne abliefern und sich somit in der Konkurrenz mit anderen Blättern und Presseagenturen geschlagen geben? Man kann sich natürlich auch von den Redaktionen zu Hause aus der Fernsehübertragung die Statements durchtelefonieren lassen – ein Vorgehen von grandioser Absurdität. Die Sinnfrage darf man bei diesem Tun nicht stellen. Jeder Fernsehzuschauer sieht mehr. Die einzige Möglichkeit, aus den etwa 5.000 Autokilometern, die man während der drei Wochen zurücklegt, Kapital zu schlagen, sind Hintergrundberichte oder so genannte Nachdreher zum aktuellen Geschehen.

Bei dem spärlichen Informationsfluss während einer Radrundfahrt strömen die jedoch meist nicht gerade über von Originalität. Sie entstehen aus Pressekonferenzen oder aus der Lektüre der französischen Presse. Selten landet man einen Scoop, bekommt ein exklusives persönliches Gespräch. Gerade freie Reporter müssen sich außerdem allzu oft der Macht der Presseagenturen beugen. Denn die Angst der Redakteure ist groß, eine Geschichte zu verpassen. Nur wenige Redaktionen schenken ihren Reportern das Vertrauen, Themen zu setzen.

Einmal gab es im Pressezentrum eines Etappenortes, drei Kilometer vom Zielstrich entfernt, nicht einmal Fernsehbilder. Eilig wurden Funkgeräte verteilt. Wie früher die Familien um die Volksempfänger saßen wir um sie herum und versuchten aus den telegrammhaften Durchsagen mühevoll einen Rennverlauf zu konstruieren. Doch man kann natürlich in allem noch das Positive sehen. Wie in den Vierzigerjahren sei das, meinte ein französischer Kollege, als noch die Fantasie der Reporter gefragt war und Radsportberichte von ihrer literarischen Qualität lebten. Ach, das war schön.