„sogenannterweise landschaftlich“

Über Natur kann man nur in Kleinbuchstaben richtig schreiben: In den Romanen von Henning Ahrens, Michael Lentz und Andreas Maier wuchern Brombeeren und Brennnesseln, schweigen Berge und rauschen Wälder. Die neuen Landschaftsliteraten wissen, welchen Ballast sie mit sich tragen

von SUSANNE MESSMER

Eine schlechte Aussicht? Darüber meckert der trendbewusste Städter zwischen zwanzig und dreißig selten. Er gibt vor, den täglichen Blick auf den Innenhof zu genießen. Instinktiv weiß er: Über die Vorteile der Mittelgebirgslandschaft und die Nachteile erhebungsarmer Gegenden wie Brandenburg zu dozieren, das katapultiert einen nicht gerade in den Mittelpunkt einer Party.

Dass es heute nicht angesagt ist, sich lyrisch über Natur zu äußern, wissen auch die Schriftsteller Andreas Maier, Henning Ahrens und Michael Lentz. Und trotzdem spielen ihre neuen Bücher in der Landschaft, der Wildnis und dem Garten. Man könnte ihre Geschichten zwar auch ganz ohne ihren natürlichen Schauplatz beschreiben, zum Beispiel als Provinzsatire bei Maier, als Geschichte einer Weltflucht bei Ahrens und als Requiem bei Lentz, aber sobald man etwas genauer hinschaut, muss man erkennen, dass sie ohne die Natur, in der sie spielen, nicht auskämen. Wie also kann man, wie können Maier, Ahrens und Lentz über Natur schreiben, wenn inzwischen Konsens ist, dass beinahe jeder Versuch, Natur in Kunst zu verwandeln, vor die Wand gelaufen ist?

Alle drei Autoren beschreiben die Beziehung zur Natur als zerrissen. Andreas Maier und Henning Ahrens folgern daraus, dass man sich an nichts annähern kann, was man nicht versteht, und entwickeln raffinierte Erzählstrategien, die Natur nur indirekt schildern. Michael Lentz versucht genau das Gegenteil. Er tastet sich an das Unantastbare heran. Damit schafft ausgerechnet er es – der störrischste, sperrigste, schwierigste dieses Trios –, den Bruch mit der Natur sinnlicher zu beschreiben als seine beiden Kollegen, die zwar interessante und auch lustige Bücher geschrieben haben, aber eben keine, die einem wirklich nahe gehen.

„Klausen“, ein Roman über eine klaustrophobische Stadt im engen Eisacktal in Südtirol, ist der zweite „Heimatroman“ von Andreas Maier, Jahrgang 1967, der seit einiger Zeit in Brixen lebt, direkt neben Klausen. Man fragt sich, ob er dort, wo er wohnt, inkognito wohnt: Sein Buch erzählt nicht nur die uralte Geschichte der Rückkehr eines Helden zu seinen Ursprüngen. Maiers Roman ist auch eine böse Provinzsatire, eine haargenaue Analyse dörflicher Gewissheiten, die schnell in eine gefährliche Gerüchteküche umschlagen kann. Und wer wird das Opfer dieser seltsamen Gruppendynamik aus Verfolgungswahn und Aberglaube? Natürlich Gasser, der Held, der aus der Fremde kam.

Auch wenn es Klatsch und Tratsch an jedem Ort der Welt gibt, ist es doch kein Zufall, dass Maier seinen Roman ausgerechnet im Ferienparadies Südtirol spielen lässt. Gasser, der Heimkehrer, findet nämlich nicht die Landschaft seiner Kindheit, die er sucht. Alles, was er in seinem Südtiroler Heimatdorf antrifft, sind Touristen, die die Natur zerstören, um sie genießen zu können, Landschaftsmaler, die ihr Dorf ohne die modernen Fabrikgebäude und Turnhallen malen, und Naturschützer, die eine Autobahn bekämpfen, die sie selbst täglich befahren. Alle diese Leute meinen, sie könnten herbeireden, was nicht mehr herbeizureden ist: die schöne Natur. Das wirkt derart grotesk, dass man schließlich den Eindruck gewinnt, die Parodie auf eine Dorfgemeinschaft schlägt um in die Parodie auf eine Vernunft, von der immer behauptet wurde, sie habe sich die Natur zu ihren Zwecken unterjocht. Wer die Figuren von Andreas Maier kennen gelernt hat, der kann kaum mehr glauben, dass es eine solche Vernunft jemals gegeben haben soll.

Henning Ahrens, Jahrgang 1964, lebt wie Andreas Maier in der Provinz – in der Nähe von Hannover. In „Lauf Jäger lauf“, seinem ersten Roman, erzählt er die Geschichte einer missglückten Flucht, von einem der auszog, das Fürchten zu lernen, und dabei im Nichts aufläuft. Ein Held verirrt sich in der Wildnis und wird von einer Gruppe von Aussteigern aufgegriffen, den Widergängern. Aus ihrem ungefähren Raunen entnimmt man vage, dass sie im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben könnten. Einmal angekommen in ihrem Nebelland, findet Zorrow keinen Ausgang mehr.

„Lauf Jäger lauf“ ist ein Buch über Weltflucht, die einen überallhin führen kann, Hauptsache, es ist anders als da, von wo man herkommt. Nichts allerdings würde sich besser eignen als die Natur, wie sie Henning Ahrens schildert, um die Idee der Weltflucht in Lächerliche zu ziehen. Diese Natur kann dem Menschen nicht gefährlich werden, sie hält ihn fest, sagt ihm aber nicht, warum. Ahrens’ Figuren stolpern im Kreis durch die Gegend und verbrennen und zerkratzen sich dabei an lästigen Brennnesseln und Brombeeren die Waden. Sie behaupten zwar, mit der Natur im Einklang zu leben, begreifen aber nicht, was dieser Überfluss an Wachstum und Leben eigentlich von ihnen will. Während Andreas Maier in „Klausen“ die Vorstellung ad absurdum führt, die Vernunft könne sich die Natur untertan machen, so nimmt Henning Ahrens darüber hinaus die Idee hoch, dass sich die Natur an dieser Vernunft rächen könnte. Ohne würdigen Feind kann es keine ordentliche Rache geben.

Vor allem als Autor und Performer von Lautgedichten bekannt geworden ist Michael Lentz, 1964 geboren, der in München lebt und für einen Auszug aus seiner Prosa „Muttersterben“ im vergangenen Jahr den Ingeborg-Bachmann-Preis bekommen hat. „Muttersterben“, die autobiografisch inspirierte Geschichte des langsamen Krebstodes der Mutter, gewinnt seinen Reiz über seine Widersprüchlichkeit. Auf der einen Seite erzählt hier jemand, der die miefige Atmosphäre, in der er aufgewachsen ist, abgehängt hat und damit seine Eltern, die irgendwie im wurstigen Nutzdenken der Nachkriegszeit stecken geblieben sind. Doch gleichzeitig wird klar: Hier schreibt auch jemand über Trauer, über den Verlust der Mutter und darüber, dass dieser Verlust schon lange vor ihrer Krankheit begonnen hat.

Aus der Perspektive einer Gegenwart, die sich von der Vergangenheit emanzipiert hat, ist für Michael Lentz wie für Andreas Maier und Henning Ahrens jede Natur, mit der der Ich-Erzähler konfrontiert ist, unverständlich. Ebenso wenig, wie sich rückwirkend eine Beziehung zur Mutter herstellt, bleiben die Dinge stumm, über die sich die Mutter identifizierte und über die sich ihr Bild herstellt: das Wetter, Vogelzwitschern, die schöne Landschaft. Nur zögernd gesteht der Erzähler ein: „sogenannterweise landschaftlich ist das ja eine feine sache mit all dem anblick den man hat.“

Doch bleibt bei Lentz nicht wie bei Maier und Ahrens die Natur ausschließlich leere Kulisse. Es bleibt die Erinnerung an den Garten der Mutter. Der Garten ist einer der letzten Anknüpfungspunkte an sie – ein Sehnsuchtsauslöser, der klassisch bevorzugte Platz in den Kindheitserinnerungen des Großstädters, ein Symbol für Vertrautheit. Lentz’ Erzähler schildert mit einer fast greifbaren Plastizität das Tor, den Kiesweg, die Schattenmorelle und immer wieder die Mutter, die den Garten nutzt: „im blauen obstkittel kehrt den rücken und füllt die gläser ab. Aus dem gummischlauch des kessels fließt brodelndes apfelgelee.“ Ausgerechnet durch diesen gebrochenen Traditionalismus erzeugt Lentz Rührung und zieht den Leser stärker in sein Buch, als es Andreas Maier und Henning Ahrens gelingt. Aber könnte das nicht auch reiner Kitsch sein? Sollten wir es nicht längst besser wissen?

Wer heute über Natur schreibt, der weiß um den Ballast, den er mitschleppt – dass die Natur immer zum Kollektivsymbol erhoben wurde, dass es immer so wenig um die Natur selbst ging, bis man schließlich daran zweifeln musste, dass Kunst Natur überhaupt beschreiben kann: wie die Romantiker, die die Natur als kritische Instanz gegen die aufgeklärte Welt benutzten. Oder die Zivilisationskritiker, die zurück zur Natur wollten im Namen patriarchaler Ordnungsvorstellungen – von wo aus es übrigens nicht mehr weit war zur rigiden „Landpflege“ der Nationalsozialisten und ihrer fixen Idee, ganz Deutschland zu einem „großen Garten“ herzurichten. Natur als Zeichen für etwas anderes: Selbst der Versuch postmoderner Autoren, Metropolen mit Tropfsteinhöhlen zu vergleichen, wirkt vor diesem Hintergrund heute antiquiert.

Andreas Maier reagiert auf diese Vorgeschichte, indem er in einem ausgeklügelten Ton der Unschärfe und Mittelbarkeit erzählt. Die schöne Landschaft rund um Klausen ist an keiner Stelle durch den Erzähler beschrieben. Erst indirekt, durch den romantisierenden Blick der Touristen, die hartnäckig den Autolärm ignorieren, erfährt der Leser, wie es eigentlich aussieht am Schauplatz des Geschehens. Und Henning Ahrens? Der schlägt den umgekehrten Weg ein, die Totschlagmethode: Sein Buch liest sich stellenweise wie eine Enzyklopädie der Tier- und Pflanzenwelt, die sich immer stärker entzieht, je mehr sie in Worte gegossen wird. Da wimmelt es nur so von sinnlos aneinander gereihten Kopfweiden, Erlen, Pappeln, Libellen, Molchen, Schnecken und Salamandern, Jagdfasanen, Kranichen, Rohrweihen, Rallen und Schnepfen – und je beschreibungswütiger sein Roman wird, desto weniger weiß man, was das alles soll, und fühlt sich plötzlich mitten in einer Satire auf die Überheblichkeiten jeglicher Naturpoesie.

Michael Lentz dagegen weiß, dass man die Sache mit der Naturbeschreibung heute nicht mehr bringen kann. Aber er versucht es trotzdem, schreibt sich heran, zieht sich zweifelnd zurück, schreibt sich wieder heran. „Und nicht zu vergessen himbeer johannis- und stachelbeer die aus dem boden stakten mauerlinks“, schreibt er, und kurz darauf: „Mein garten mein hausrat mein sprachloch“. Diese spannungsgeladene Prosa berührt am meisten.

Andreas Maier: „Klausen“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 215 Seiten, 18 €ĽHenning Ahrens: „Lauf Jäger lauf“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 256 Seiten, 12 €ĽMichael Lentz: „Muttersterben“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 186 Seiten, 18 €