berliner szenen Lyrik und Bernsteinketten

Dichtende Cousinen

„Sag mal, ist deine Cousine immer noch Prenzlauer-Berg-Lyrikerin?“, fragte mich C. neulich. Er liebt es, bei anderen Leuten den Finger in die Wunde zu legen. Im Prinzip schon, entgegnete ich mit leicht gequältem Lächeln, nur sei sie nach Friedrichshain umgezogen. Zudem habe sie sich auf Natur-Gedichte spezialisiert. „Sie hat ihre Federboa gegen eine Bernsteinkette eingetauscht“, setzte ich mit einem Stirnrunzeln hinzu, dann bestellte ich einen doppelten Wodka.

Wenige Tage später bekam ich eine auf lila Büttenpapier gedruckte Einladung zu einer „poetischen Nacht“. Ich zog das blaue Oberhemd an, von dem ich immer schlechte Laune bekomme, und machte mich auf den Weg. Wie üblich verlief ich mich zwischen Ostkreuz und Boxhagener Platz. Die Straße, in der die Poeten wohnen, ist nicht leicht zu finden. Mit klimpernder Bernsteinkette begrüßte mich meine dichtende Base und verwies mich ins „Sonnenblumenzimmer“, wo bereits die Gäste warteten. Höhepunkt des Abends war diesmal nicht Naturlyrik, sondern ein Dokumentarfilm, den ihre Schauspiellehrerin gedreht hatte. Thema: erfolglose Menschen über dreißig. Als Beobachtungsobjekt hatte sich die Jungfilmerin meine Cousine ausgesucht. So sah ich sie nun durch den Friedrichshain schlendern, auf dem Wochenmarkt Käse kaufen, Antiquitäten verkaufen oder beim Vollbad Ferngespräche führen. Zwischendurch kommentierten russische Sprichwörter die einzelnen Szenen. Nach der Aufführung wurde ich der Dokumentarfilmerin vorgestellt. Diese zeigte sich höchst interessiert, als sie erfuhr, ich sei ein naher Verwandter. „Im Prinzip schon“, erwiderte ich so glaubhaft wie möglich, „aber ich bin noch nicht dreißig und zudem – ähm – relativ erfolgreich.“ ANSGAR WARNER